Bleib bei mir, kleine Lady
Damien.
„Wir werden uns zum Mittagessen Forellen fangen und sie über einem kleinen Feuer braten“, sagte Gracila. „Und danach können wir uns zum Zaun schleichen und hinüberspähen. Vielleicht sehen wir die Königin, wie sie durch den Park von Lynmouth House spaziert. Wenn natürlich die Hecken zu hoch sind …“
„Du wirst die Königin sehen“, unterbrach Lord Damien sie lächelnd.
Seine Stimme klang so überzeugend, daß Gracila ihn verwundert ansah.
„Du wirst es nicht nötig haben, über den Zaun zu spähen“, erklärte ihr Lord Damien. „Aus der Vogelperspektive wirst du sie sehen können. Vom Krähennest aus.“
„Vom Krähennest?“
„Du hast mir so viel von meinem eigenen Besitz erzählt und kennst das Krähennest nicht? Das wundert mich.“
„Erzähl! Wo ist es denn, und warum habe ich noch nie davon gehört?“
„Wahrscheinlich, weil mein Vater es längst vergessen hatte und ich wohl der letzte war, der da hinaufgeklettert ist.“
Lord Damien ging zum Kamin und stellte sich mit dem Rücken vor das Feuer.
„Mein Großvater und der zweite Marquis von Lynmouth“, erzählte er, „haben sich wegen der Grenze der beiden Besitztümer zerstritten. Und zwar deshalb, weil sie an einer Stelle einen Knick macht und wie ein großes Knie in den Park des Marquis hineinreicht. Dieses Knie entstand durch den Bach, der sich, wie du weißt, durch den Wald schlängelt und dann plötzlich in einem fast rechten Winkel Richtung Lynmouth House fließt.“
„Ja, das weiß ich“, sagte Gracila.
„Der Marquis wollte, daß die Grenze seines Besitzes diesseits des Baches verläuft, und mein Großvater wollte, was verständlich ist, daß der Bach noch zu seinem Grund und Boden gehört.“
Gracila wußte, wie verbittert Grundbesitzer über ein paar Meter Land streiten konnten, und lächelte daher verständnisvoll.
„Die beiden alten Herren“, erzählte Lord Damien weiter, „sind schließlich persönlich geworden, und der Marquis hat meinen Großvater beschuldigt, nur deshalb so stur zu sein, weil dieser offensichtlich vor Neugierde platze und seine Tage damit verbringen wolle, in seinen Park zu spähen. Die beiden Hitzköpfe sind offensichtlich immer heftiger geworden, und es hat damit geendet, daß sie lebenslänglich kein Wort mehr miteinander gesprochen haben.“
„Und dann?“
„Mein Großvater hat hin und her überlegt, wie er den Marquis am besten ärgern und am empfindlichsten treffen kann, und hat schließlich das sogenannte Krähennest bauen lassen, von dem aus man tatsächlich den ganzen Park von Lynmouth House überblicken kann.“
„Jetzt verstehe ich“, sagte Gracila lächelnd. „Ich würde die Königin nämlich wirklich gern sehen.“
„Mein Großvater hat persönlich den Baum ausgesucht, in den das Krähennest hineingebaut worden ist. Es handelt sich um eine uralte Fichte, die direkt an der Grenze zwischen den beiden Besitzungen steht. Ich bezweifle, ob mein Großvater je hinaufgestiegen ist. Ihm ging es lediglich darum, den Nachbarn zu ärgern, und das ist ihm wohl gründlich gelungen.“
„Und dieses Krähennest existiert noch?“
„Als ich vor zwölf Jahren von hier weggegangen bin, war es in fabelhaftem Zustand, denn ich hatte alle Wetterschäden und dergleichen reparieren lassen.“
Lord Damien erinnerte sich daran, wie sehr sich das Krähennest als nützlich erwiesen hatte, als er noch gezwungen gewesen war, Phenice heimlich zu treffen.
Es war verabredet gewesen, daß Phenice ein weißes Taschentuch auf den Sims ihres Schlafzimmerfensters legte, wenn sie zum Zaun kommen und ihn treffen konnte.
Die Fenster ihres Schlafzimmers waren auf den Park hinausgegangen, und Virgil hatte viele Stunden im Krähennest zugebracht und darauf gewartet, das weiße Tüchlein erscheinen zu sehen.
Und wie selig er jedesmal gewesen war, wenn er sie mit ihrem Sonnenschirmchen über den Rasen hatte kommen sehen.
Damals hatte er noch nicht ahnen können, daß er später das Krähennest verfluchen sollte, weil es die heimlichen Rendezvous’ ermöglicht hatte.
„Das klingt alles sehr spannend“, sagte Gracila. „Ich habe mir schon immer gewünscht, die Königin einmal in Fleisch und Blut zu sehen. Ich hätte ihr im letzten Monat bei einem Empfang vorgestellt werden sollen, aber dann kam die Sache mit meiner Heirat dazwischen, und ich konnte nicht hingehen.“
„Du wirst das bestimmt nachholen können.“
„Das glaube ich kaum.“
„Wir haben noch nicht darüber gesprochen,
Weitere Kostenlose Bücher