Bleib nicht zum Frühstück
denken, daß es niemand merkt. Treibt einem die Tränen in die Augen, wenn man die beiden zusammen sieht.«
Lynn erinnerte sich an die glückliche Miene, mit der Cal in der letzten Zeit herumgelaufen war, und an die Tränen in den Augen der Schwiegertochter – das, was ihre Mutter sagte, könnte zutreffen…
Annie sah sie von der Seite an. »Das Baby dieser Herrschaften wird sicher ziemlich klug.«
»Scheint unvermeidbar zu sein.«
»Wenn du mich fragst, ist es nicht gut, wenn so ein ungewöhnliches Kind ohne Geschwister aufwachsen muß.
Guck dir nur an, wie traumatisch das Leben des Einzelkindes Janie Bonner war. Nur deshalb hat sie Cal und sich überhaupt derart in die Bredouille gebracht.«
»Da hast du sicher recht.«
»Sie hat mir erzählt, daß sie sich immer vorkam wie ein Ungeheuer.«
»Was ich durchaus verstehen kann.«
»Ein solches Kind braucht Brüder und Schwestern.«
»Aber dazu müßten die Eltern ja wohl unter einem Dach leben!«
»Leider, leider!« Annie lehnte sich seufzend in ihrem Schaukelstuhl zurück. »Scheint, als hätten du und ich keine Wahl, Amber Lynn. Sieht aus, als müßten wir noch mal dafür sorgen, daß uns ein Bonner in die Falle geht.«
Lynn lächelte, als sie, nachdem ihre Mutter zu Bett gegangen war, auf die Veranda trat. Annie bildete sich gerne ein, sie und ihre Tochter hätten damals gemeinsam Jim eingefangen. So war es nicht gewesen, aber Lynn hatte es aufgegeben, die Dinge ins rechte Licht zu rücken. Annie glaubte, was ihr behagte. So war sie nun einmal.
Es ging auf Mitternacht zu, und fröstelnd zog sie den Reißverschluß des alten Wolverine Sweatshirts aus Cals Tagen im Collegeteam rauf. Sie starrte zu den Sternen und dachte, daß man sie hier vom Heartache Mountain aus viel besser sah als von ihrem Haus in Salvation aus.
Das Geräusch eines sich nähernden Wagens schreckte sie aus ihren Erinnerungen. Sämtliche Familienmitglieder waren Nachtmenschen, es mußte sich daher um Cal oder Ethan handeln. Sie hoffte auf ihren ältesten Sohn, der eine Versöhnung mit Janie anstrebte. Dann allerdings erinnerte sie sich an ihr Versprechen, ihn von ihr fernzuhalten, und runzelte die Stirn.
Schließlich entpuppte sich das Auto, das langsam die Hügelkuppe umrundete, weder als Cals noch Ethans, sondern vielmehr als das ihres Mannes. Vor Überraschung hielt sie die Luft an. Seit sie zu Hause ausgezogen war, hatte Jim sich nicht ein einziges Mal gemeldet.
Ihr fiel ein, wie verbittert er am Freitag aus dem Lokal gestürzt war, und fragte sich, ob er ihr nun die Visitenkarte seines Scheidungsanwalts unter die Nase halten würde. Sie hatte keine Ahnung, wie man sich scheiden ließ, außer, daß man zu einem Anwalt ging. Lief das so ab? Man ging zu einem Anwalt, und ehe man sich's versah, war die Ehe aufgelöst?
Jim stieg aus dem Wagen und näherte sich ihr mit den langen, geschmeidigen Schritten, die ihr Herz seit jeher schneller schlagen ließen. Sie hätte sich sein Erscheinen denken können. Sicher hatte Cal inzwischen mit ihm gesprochen, und die Aussicht auf ein neues Enkelkind lieferte ihm einen weiteren Grund, ihr Vorhaltungen zu machen über ihre Flucht. Während sie sich an einen der frisch gestrichenen Pfosten der Veranda lehnte, warf sie ihm stumm seine seit über dreißig Jahren verfochtene Ansicht vor, daß sie seiner nicht würdig war.
Unmittelbar vor der Verandatreppe blieb er stehen und blickte zu ihr auf. Eine lange Zeit sah er sie einfach schweigend an, und als er endlich sprach, hatte seine Stimme einen eigenartig förmlichen Unterton. »Hoffentlich habe ich dich mit meinem späten Auftauchen nicht erschreckt.«
»Schon gut. Wie du siehst, war ich sowieso noch nicht im Bett.«
Er ließ seinen Blick sinken, und einen Augenblick lang hatte sie das seltsame Gefühl, als wolle er davonlaufen, aber da täuschte sie sich wohl. Jim war noch nie in seinem Leben vor etwas davongerannt.
Wieder schaute er zu ihr auf, und in seinen Augen lag der altbekannte trotzige Glanz. »Ich bin Jim Bonner…«
Sie starrte ihn entgeistert an.
»… und arbeite als Arzt hier in der Stadt.«
Hatte er den Verstand verloren? »Jim, was ist los?«
Er verlagerte sein Gewicht, als wäre er nervös, was man an ihm, abgesehen von dem Augenblick, als er die Nachricht von Jamies und Cherrys Tod erhielt, normalerweise nicht erlebte, da er sonst voll überbordendem Selbstbewußtsein vor ihr zu stehen pflegte.
Dr. Jim Bonner faltete die Hände, doch dann ließ er sie sinken und sah
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