Bleib nicht zum Frühstück
ihrem trotzigen Ältesten, mit dem sie früher zugleich Kind sein durfte. Er war wütend auf sie, und sie konnte nur darauf vertrauen, daß sie das Richtige tat und er sie eines Tages vielleicht verstand.
Sie hätte erwartet, daß Jim Cal nachlaufen würde, doch statt dessen kam er näher und wandte sich Annie zu. Da sie seine Gefühle für ihre Mutter kannte, würde es sicher wie gewöhnlich zu einer Auseinandersetzung der beiden kommen, doch wieder wurde sie überrascht.
»Mrs. Glide, ich bitte sie um Ihre Erlaubnis, mit Ihrer Tochter ein Stück spazierenzugehen.«
Sie hielt den Atem an. Dies war Jims erste Rückkehr zum Heartache Mountain seit dem Abend vor zwei Wochen, als sie ihn fortgeschickt hatte. In den darauffolgenden Tagen fand sie ihre Reaktion durchaus angemessen; aber nachts, allein in ihrem Bett, hatte sie sich gewünscht, es gäbe einen Ausweg. Niemals hätte sie es für möglich gehalten, daß er seinen Stolz so weit überwand, noch einmal in der Rolle des höflichen Verehrers vor sie zu treten.
Annie jedoch tat, als wäre sein Verhalten das normalste von der Welt. »Aber bleibt in Sichtweite des Hauses«, warnte sie.
Um seine Mundwinkel herum zuckte es, aber er nickte steif.
»Also gut, dann.« Annie schubste ihre Tochter unsanft vorwärts. »Jetzt geh schon, Amber Lynn. Jim hat dich nett gebeten, mit ihm spazierenzugehen. Und daß du ja höflich bist, nicht so schnippisch, wie du dich mir gegenüber in letzter Zeit verhalten hast.«
»Zu Befehl, Ma'am.« Lynn ging die Treppe hinunter, und am liebsten hätte sie trotz der Enge in ihrem Hals laut gelacht.
Jim nahm ihre Hand, blickte auf sie herab, und die warmen, goldenen Sprenkel in seinen braunen Augen erinnerten sie plötzlich daran, wie zärtlich er sie während ihrer drei Schwangerschaften behandelte. Als sie jeweils am fettesten gewesen war, hatte er ihren Bauch geküßt und ihr erklärt, sie wäre die schönste Frau der Welt. Während ihre Hand wie ein kleiner Vogel in seiner Pranke lag, wollte sie sich lieber an alles Gute erinnern und das Schlechte nicht hochkommen lassen.
Er führte sie in Richtung des Pfades, der sich durch den Wald schlängelte, und trotz Mahnung ihrer Mutter hatten sie innerhalb kürzester Zeit eine Stelle erreicht, die vom Haus aus nicht mehr zu sehen war.
»Schöner Tag«, sagte er. »Ein bißchen warm für Mai.«
»Ja.«
»Hier oben ist es unglaublich ruhig.«
Es überraschte sie, daß er immer noch bereit war, so zu tun, als hätten sie sich eben erst kennengelernt; doch bereitwillig folgte sie ihm auf diese Ebene, wo keiner von ihnen je den anderen verletzt hatte. »Ja, friedlich – mir gefällt es so.«
»Hast du dich nie einsam gefühlt?«
»Es gibt immer viel zu tun.«
»Was?«
Unter der Eindringlichkeit seines Blickes zuckte sie zusammen. Er wollte wirklich wissen, was sie hier tat, wollte ihr zuhören! Freudig fing sie mit ihrer Schilderung an.
»Wir stehen alle früh auf. Ich gehe gern im Wald spazieren, sobald die Sonne aufgegangen ist, und wenn ich zurückkomme, hat meine Schwiegertochter…« Sie verstummte und sah ihn aus den Augenwinkeln an. »Sie heißt Jane.«
Er runzelte die Stirn, doch sagte nichts. Sie gingen den von Rhododendren, Berglorbeer, Veilchen, Narzissen und einem burgunderroten Teppich kleiner namenloser Blüten gesäumten Pfad hinab. Ein paar Hartriegel feierten mit einem wahren Regen weißer Blüten ihren erfolgreichen Widerstand gegen den Pilz, der bereits einer Großzahl von Pflanzen in den Bergen von Carolina den Garaus gemacht hatte. Lynn atmete den reichen, feuchten Duft der frischen Erde ein.
»Wenn ich von meinem Spaziergang zurückkomme, hat Jane bereits das Frühstück für uns gemacht«, fuhr sie fort.
»Meine Mutter will immer Eier mit Speck; aber Jane backt Vollkorn- oder Weizenmehlpfannkuchen mit frischem Obst, so daß Annie normalerweise zetert wie verrückt, sobald sie in die Küche kommt. Aber Jane ist gerissen und hat Annie besser im Griff als sonst irgendwer. Wenn wir fertig gefrühstückt haben, höre ich Musik und räume die Küche auf.«
»Was für Musik?«
Er wußte genau, was für Musik ihr am liebsten war. Im Laufe der Jahre hatte er Hunderte von Malen an ihren diversen Autoradios von ihren bevorzugten Klassiksendern auf seine Country-und-Western-Sender umgeschaltet. »Ich liebe Mozart und Vivaldi, Chopin und Rachmaninow.
Meine Schwiegertochter mag Classic Rock. Manchmal tanzen wir.«
»Du und… Jane?«
»Sie hat eine besondere Vorliebe
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