Bleib nicht zum Frühstück
die Lieferanten des Supermarkts und die beiden koreanischen Putzfrauen, die sie nicht einmal verstand. Gleich einem Feudalherrn hinter seiner Burgmauer hielt er sie absichtlich von der Stadt und ihren Bewohnern fern. Wie er sich wohl verhielt, wenn erst mal seine Familie zurückkehrte?
Anders als eine mittelalterliche Edelfrau hätte sie ihrer Gefangenschaft jederzeit ein Ende bereiten können, indem sie einfach ein Taxi bestellte; doch im Grunde verspürte sie nicht wirklich den Wunsch danach. Mit Ausnahme der zänkischen Annie Glide kannte sie hier niemanden, und obgleich es ihr gefallen hätte, sich die Umgebung anzusehen, genoß sie den Luxus, daß tatsächlich nichts und niemand ihre Arbeit störte.
Nie zuvor in ihrem Leben hatte sie sich so vollkommen der reinen Wissenschaft widmen können. Sie mußte keinen Unterricht halten, keine Fakultätsversammlungen besuchen, keine Besorgungen erledigen, nichts, was ihre Forschung unterbrach. Durch ihren Computer, das Modem und das Telephon hatte sie Verbindung zu aller Welt, von der elektronischen Bibliothek in Los Alamos bis hin zu den milliardenteuren Teilchenbeschleunigern, von denen sie Tag und Nacht Daten bedeutender Experimente geliefert bekam. Und die Arbeit hielt ihr Unbehagen über ihre Beziehung zu Cal in Schach.
Sie verlor jedes Zeitgefühl, während sie sich zur Lösung mathematischer Rätsel mit Dualität, theoretischer Physik beschäftigte und über Spiegelsymmetrien nachgrübelte. Sie wandte die Quantenfeldtheorie auf die Zählung von Löchern in vierdimensionalen Räumen an, und wo immer sie ging, ließ sie auf den Rückseiten von Werbebroschüren des Pizzaservice oder auf den Rädern der Morgenzeitung eilig gekritzelte Notizen zurück. Eines Nachmittags kam sie in ihr Badezimmer, entdeckte, daß sie ganz in Gedanken mit ihrem altrosafarbenen Lippenstift eine sich in eine Kugel verwandelnde Doughnut-Form auf den Spiegel gemalt hatte, und sah ein, daß sie kurz vor dem Überschnappen war.
Energisch warf sie sich in ihre weiße Regenjacke, nahm die zahllosen Notizen, die sie während vorhergegangener Spaziergänge beiläufig zu Papier gebracht hatte, aus den Taschen und trat durch die Flügeltür des Wohnzimmers in den Garten hinaus. Während sie auf den Weg zusteuerte, den sie an jedem Tag ein Stückchen höher kletterte, kehrten ihre Gedanken zur Problematik gewundener Kurven zurück. Wäre es vielleicht möglich…
Der schrille Ruf eines Vogels drang durch ihre Gedanken und machte ihr wieder bewußt, daß sie nicht am Computer saß. Wie konnte sie nur über Quantengeometrie nachgrübeln, während sie von solcher Schönheit umgeben war?
Wenn sie nicht aufpaßte, würde sie noch so verschroben, daß sie als Mutter für jedes Kind eine Strafe war.
Während sie höher kletterte, zwang sie sich, die Welt zu betrachten, in der sie sich im Augenblick befand. Sie sog die reichen Düfte von Kiefern und feuchter Erde ein und spürte, daß die Sonne mit neuer Kraft schien. Die Bäume wiesen erste, grüne Spitzen auf. Der Frühling kam, und baldigst wären all diese Hänge von Blümchen übersät.
Doch statt die herrliche Natur zu genießen, versank sie abermals in Grübelei – denn plötzlich verstärkte sich die Furcht vor dem völligen Ausflippen, die sie seit Tagen jagte. Mit Hilfe ihrer Arbeit hatte sie diese Angst verdrängt, aber nun, in der Ruhe des lebendigen Waldes, der sie umgab, gelang ihr das nicht mehr.
Da ihr Atem bereits schwerer ging, suchte sie sich eine felsige Stelle am Rand des Weges und setzte sich kurz hin.
Sie war diese ständigen Schuldgefühle so leid. Cal würde ihr das, was sie getan hatte, niemals verzeihen, und sie konnte nur beten, daß er seine Feindseligkeit nicht an ihrem gemeinsamen Junior ausließ.
Sie erinnerte sich an die versteckte sexuelle Drohung, die er am Abend ihrer Ankunft ausgesprochen hatte, und quälte sich mit der Frage, ob er sie vielleicht tatsächlich vergewaltigen würde. Fröstelnd blickte sie hinab ins Tal, wo sie das Haus mit dem dunklen Schindeldach und dem halbmondförmigen Parkplatz entdeckte. Ein Wagen kam die Einfahrt heraufgefahren. Cals Jeep. War er zurückgekehrt, weil ihm nach einem neuen Comic-Heft aus seiner Sammlung zumute war?
Die Dinger lagen überall im Haus herum: X-Men, Die Rächer, Gewölbe des Grauens, sogar Bugs Bunny hatte sie entdeckt. Bei jedem neuen Comic-Heft sprach sie ein stummes Dankgebet, daß wenigstens eine Sache positiv verlaufen würde. Intelligenz tendierte stets
Weitere Kostenlose Bücher