Bleib ungezaehmt mein Herz
von ihren Schultern herabhängen, damit ihr Ballkleid aus saphirblauem Taft noch sichtbar war. Es war eine verblüffende Farbe, die ihr Haar in Flammen setzte, so daß Sebastian keine großen Schwierigkeiten hätte, seine Schwester trotz der Maske in der Menge auszumachen.
Sie waren erst einmal durch den Ballsaal getanzt, als Sebastian sie entdeckte. Er war mit einer Gruppe von Freunden da, sie standen lässig gegen die Wand gelehnt und musterten die Tanzenden mit dem Ausdruck derjenigen, die den Zwängen der Konvention entflohen sind und die feste Absicht haben, sich zu amüsieren, egal, auf welch ausgefallene, geschmacklose Art und Weise sich dieses Vergnügen darbot. Sie hielten Humpen mit Starkbier und Portwein in der Hand und wirkten schon leicht angeheitert, während sie taktlose Bemerkungen über die Gesellschaft austauschten.
»Großer Gott, da ist meine Schwester«, verkündete Sebastian mit leicht schleppender Stimme, als Judith und Gracemere in Hörweite kamen.
Judith fühlte, wie Gracemere sich plötzlich versteifte. »Sebastian«, rief sie, sich von Gracemere lösend. »Was machst du denn hier? Ist es nicht ein herrliches Abenteuer? Ich habe noch nie solche Leute gesehen. Weißt du, da waren gerade eben Leute, die sich um den Lilienteich gejagt haben. Sie hatten ihre Masken abgenommen und... oh, Mylord, ich bitte um Verzeihung.« Sie drehte sich mit strahlendem Lächeln zu Gracemere um, dessen Gesichtsausdruck völlig hinter der Maske verborgen blieb. »Was für ein Zufall. Mein Bruder ist auch hier.«
»Das sehe ich.« Er verbeugte sich. »Ihre Schwester hatte das große Bedürfnis, die Vergnügungen eines öffentlichen Ridottos zu erleben, Davenport. Ich habe ihr meine Dienste als Begleiter angeboten.«
»Aber warum denn, Ju, du weißt, ich hätte dich auch hinbegleitet«, sagte Sebastian vorwurfsvoll. »Aber laß mich dich mit meinen Freunden bekannt machen.«
Eine Frau in einem grünen Domino trat aus einer Fensternische heraus, als Judith den Arm ihres Bruders nahm. Hier gab es kein Unheil zu stiften, hier gab es keine Geschichten von befleckter Tugend dem ehrenwerten Marquis von Carrington zu berichten. Agnes Barret ging nach Hause.
Von da an brach der sorgfältig konstruierte Verführungsplan des Earls zusammen. Sebastian in seiner von Gin und Starkbier erzeugten leicht benebelten Heiterkeit hielt an seiner Meinung fest, Gracemere müsse über dieses zufällige Zusammentreffen einfach ebenso entzückt sein wie sie alle und nichts würde ihn zufriedener stimmen, als wenn sie zusammenblieben und gemeinsam in einem der Rundbauten zu Abend speisten, wo sie die Bürger und die Damen der Halbwelt nach Herzenslust beobachten konnten. Es fielen des öfteren scherzhafte Bemerkungen über die mögliche Reaktion des Marquis von Carrington, falls er wüßte, auf welch vulgäre Weise seine Frau sich amüsierte, und Judith wirkte bald so angeheitert wie ihr Bruder und seine Freunde, während der Abend fortschritt.
Gracemere blieb nichts anderes übrig, als bei der fröhlich lärmenden Gruppe zu sitzen und voller Ungeduld auf das Ende des Abends zu warten. Er kam sich wie ein ältlicher Onkel vor, der in eine Gesellschaft ausgelassener junger Leute hineingeplatzt war. Judiths Benehmen war sicherlich unpassend für eine Marquise von Carrington, aber ihre Identität war ja von der Maske verhüllt, sollte irgendein anderes Mitglied der gehobenen Gesellschaft ebenfalls auf die Idee gekommen sein, einen so unkonventionellen Abend zu verbringen. Und selbst wenn - man konnte Judith höchstens ein Übermaß an Ausgelassenheit vorwerfen. Es gab nichts, woraus man einen öffentlichen Skandal hätte machen können, kein Kapital, das der Earl aus seiner Begleitung schlagen konnte. Statt eines privaten, intimen
Dinners in einem gedämpft beleuchteten Separee saßen sie öffentlich unter dem hellen Glanz eines Dutzends von Kronleuchtern in der Gesellschaft von Judiths Bruder. Die Londoner High-Society würde diesen Vorfall wahrscheinlich nur mit leichter Mißbilligung zur Kenntnis nehmen, falls er jemals bekannt würde. Statt ihren Flirt auf dem Pfad unverhohlener Verführung weiter voranzutreiben, mußte Gracemere mit ansehen, wie sein Opfer sich in eine kichernde Naive verwandelte, die sich gegen ihren Bruder lehnen mußte - um den körperlichen Halt zu finden, den sie so dringend brauchte. Gracemere nahm an, Agnes war inzwischen nach Hause zurückgekehrt.
Am Ende des Abends war er zu allem Überfluß auch noch
Weitere Kostenlose Bücher