Bleib ungezaehmt mein Herz
nach Charleroi in der Defensive war«, sagte Peter nach einer Pause.
»Agenten kann man mit falschen Informationen füttern.« Marcus' trockene Feststellung löste wieder betretenes Schweigen aus.
»Marcus, freut mich, Sie zu sehen, Mann!« Arthur Wellesley, Duke von Wellington, kam aus seinem Büro nebenan, eine Landkarte in der Hand. »Sie scheinen die richtige Idee gehabt zu haben. Hier, schauen Sie sich das an. Er kann bei Ligny, Quatre Bras oder Nivelles angreifen. Was meinen Sie dazu?« Er breitete die Karte auf dem Tisch aus und zeigte mit einem kurzen, dicken Zeigefinger auf die drei Straßenkreuzungen.
Marcus studierte die Karte. »Bei Ligny«, sagte er entschieden. »Es ist der schwächste Punkt in unserer Linie. Dort gibt es eine Lücke, wo Blüchers Streitkräfte und unsere sich nicht treffen.«
»Blücher hat Männer aus Namur herbeordert, um seine Truppen bei Ligny zu verstärken«, erwiderte der Herzog.
»Wir werden unsere Armee an der Front zwischen Brüssel und Nivelles konzentrieren.«
»Angenommen, die Franzosen schwenken nach Norden, Richtung Quatre Bras ab«, ergänzte Marcus und fuhr die Linie mit seiner Fingerspitze entlang, »dann wird er die beiden Streitkräfte trennen und uns zwingen, an zwei Fronten zugleich zu kämpfen.«
Wellington runzelte die Stirn und strich sich nachdenklich übers Kinn. »Können Sie heute nachmittag bei der Konferenz dabeisein?« Er rollte die Karte wieder auf.
»Zu Ihren Diensten, Herzog.« Marcus verbeugte sich.
Seine eigenen Pläne schienen weniger dringend angesichts der gegenwärtigen Notlage, aber aus irgendeinem Grund waren sie es nicht. Er würde Judith natürlich heute abend beim Ball der Duchesse von Richmond sehen, und trotzdem fieberte er förmlich vor Ungeduld, fast als wäre er noch ein grüner Junge, der den Gegenstand heißer, offenkundiger Phantasie verfolgt. Marcus sagte sich folgerichtig, daß er bis zu der Konferenz am Nachmittag nicht groß von Nutzen sein konnte, und beschloß deshalb, seine Suche in der Zwischenzeit fortzusetzen.
Er stöberte Judith in der Unterkunft von einem von Wellingtons Adjutanten auf. Es schien, als sei halb Brüssel hier versammelt, um aufgeregt über die Neuigkeit zu diskutieren, daß Napoleon - man stelle sich das nur vor! - Wellington vollkommen überrascht hatte und sich jetzt auf einen Angriff auf die Stadt vorbereitete.
»Aber der Herzog hat alles gut im Griff«, versicherte ein schnauzbärtiger Colonel einer hektisch schnatternden, verängstigten Dame mit altmodischer Samthaube. »Er wird seine Truppen auf der Straße nach Nivelles zusammenziehen und einem Angriff auf unsere Stadt zuvorkommen.«
»Ich bin sicher, wir haben nicht das geringste zu befürchten, Madam«, kam die samtige Stimme von Miss Davenport. Sie stand am Fenster, und ein Sonnenstrahl leuchtete auf ihrem üppigen, kupferfarbenen Haar, das zu einer schlichten Krone auf dem Oberkopf geflochten war. Sie war in fließenden Musselin gekleidet, ein duftiger Spitzentuff diente als Hut, und Carrington betrachtete sie eine Minute in anerkennendem Schweigen. Es lag etwas unglaublich Aufreizendes, Verlockendes in dem Kontrast zwischen ihrem streng geschnittenen, eleganten Kleid und dem herausfordernden Glanz ihrer goldbraunen Augen, als sie ihren Blick mit einer leisen Andeutung von Spott über die alarmierten Bürger schweifen ließ. Ein Gefühl erwartungsvoller Erregung durchzuckte Marcus. Er konnte sich nicht erinnern, seit seiner Jugend jemals wieder so eine heftige Begierde verspürt zu haben.
Er eilte durch den Raum auf Judith zu. »Ihre Kaltblütigkeit ist bemerkenswert, Madam. Überkommt Sie nicht wenigstens ein leichtes Zittern beim Gedanken an den Menschenfresser ?«
»Nicht im geringsten, Sir.« Müßig ließ sie ihren geschlossenen Sonnenschirm auf dem Fußboden kreiseln. »Ich nehme an, Sie haben sich von Ihren Verlusten gestern abend erholt. Sie waren ziemlich schwer, glaube ich.«
»Bezieht sich Ihre Bemerkung auf meine Verluste an Ihren Bruder oder an seine Schwester, Madam?« Seine Augen verengten sich, als er seine Schnupftabaksdose aufklappte und eine kleine Prise nahm.
»Ich war mir keines Gewinns bewußt, Sir.« Sie blickte unter dichten Wimpern zu ihm auf. »Nur der Notwendigkeit, meinen Standpunkt zu verteidigen.«
»Ich hoffe, ich kann Sie überzeugen, in diesem Punkt ein wenig nachzugeben.« Er ließ die emaillierte Schnupftabaksdose in seiner Manteltasche verschwinden. »Ich habe einen Vorschlag zu machen, Miss
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