Bleib ungezaehmt mein Herz
innerhalb von Minuten schnitten wild zuckende Blitze durch die Wolken. Der Donner ist fast so heftig wie das Kanonenfeuer gestern, dachte Judith, die einen Moment im Eingang des Lazarettzelts stand und in den strömenden Regen hinausstarrte.
Den ganzen Tag lang schüttete es gnadenlos vom Himmel herab. Judith war bald bis auf die Haut durchnäßt, spürte es jedoch kaum. Wagenladungen von Verwundeten rumpelten Stunde für Stunde die Straße hinunter in Richtung Brüssel, und gegen Abend war Judith gerade dabei, es ein paar Verletzten in einem der Wagen unter einer Ölplane etwas bequemer zu machen, als eine zögernde Stimme sie rief.
»Charlie!« Sie blickte auf, überrascht und froh, ihn zu sehen. Wasser tropfte aus ihrem Haar. »Gott sei Dank, dir ist nichts passiert.«
»Nein«, sagte er und wurde blutrot vor Verlegenheit, als
er stotterte: »Äh... Miss Daven... äh ... Jud... mein Cousin... mein Cousin hat mich geschickt, um dich abzuholen. Er ist bei der Armee in Waterloo. Wir müssen sofort aufbrechen.«
Judith kletterte völlig erschöpft vom Wagen herunter. Was hatte Marcus Charlie erzählt? »Ist es weit?«
»Nein, nur ein paar Meilen. Die Armee liegt auf der anderen Seite der Straße nach Brüssel in Stellung«, erklärte Charlie. »Heute hat es wegen des Unwetters keine Kämpfe gegeben.«
»Ich muß mein Pferd und den Wagen holen.«
»Ich habe sie schon geholt. Sie stehen drüben bei dem Farmhaus. Marcus hat mir gesagt, wo ich sie finden würde.« Er starrte irgendwo auf einen Punkt zwischen ihnen, unfähig, ihr in die Augen zu sehen. »Er sagte, ihr... also, ich schätze, in einem solchen Fall sind Glückwünsche angebracht.«
»Ach, Charlie, es ist im Moment einfach zu schwierig zu erklären«, erwiderte sie und nahm seinen Arm. »Tatsächlich weiß ich gar nicht, ob ich es überhaupt erklären kann. Es ging alles sehr schnell.«
»In Brüssel hattest du nicht die Absicht...«
»Nein«, unterbrach sie ihn, als ihr klarwurde, daß er den beschämenden Verdacht hatte, er wäre zum Narren gehalten worden und Judith und sein Cousin hätten die ganze Zeit hinter seinem Rücken eine heimliche Liaison gehabt. »Nein. Es ist alles ganz plötzlich gekommen. Ich weiß nicht, wie ich Verständnis von dir erwarten kann, wenn ich es selbst nicht verstehe.«
»Oh.« Charlie schien immer noch nicht recht überzeugt, als er Judith in den Wagen half. »Ich binde mein Pferd hinten an und setze mich neben dich. Hier ist eine Plane, die wir uns überlegen können.«
Judith nahm die Zügel. Sie kauerten sich beide unter die Plane, obwohl sie schon so naß waren, daß es ziemlich nutzlos schien. Nach einer Weile sagte Charlie hitzig: »Mein Cousin tut nie etwas Überraschendes. Warum sollte er plötzlich mitten in einer Schlacht heiraten? Ich dachte, die Leute verliebten sich nur in Mrs. Radcliffes Romanen so Hals über Kopf.«
Judith lächelte und tätschelte seine Hand. »Du weißt doch, es wird immer behauptet, die Wirklichkeit wäre seltsamer und verrückter als jeder Roman.« Wenn das die Erklärung war, die ihn zufriedenstellen würde, dann wollte sie es dabei belassen. Mit der Wahrheit würde Charlie offensichtlich nicht umgehen können: heiße Leidenschaft, gegenseitige Verführung, ungünstige Umstände und ein höchst gewissenhaftes Ehrgefühl... in Verbindung mit einem gewissenlosen Ausnützen einer günstigen Gelegenheit.
Wellingtons Armee lagerte außerhalb des Dorfes von Waterloo, das sich an der Straße nach Brüssel entlangzog und hinter einem kleinen Hügel gelegen war, der sie vor feindlicher Beobachtung und Kanonenfeuer schützen würde. Es war eine relativ günstige Position, und der Herzog war in heiterer Stimmung, als Judith, von Charlie begleitet, eines der Bauernhäuser in der Kette von Farmgebäuden betrat, die beide Flanken der Armee schützte. Ein Feuer brannte im Kamin, und der Geruch von feuchter Wolle erfüllte die Luft, als die durchnäßten Bewohner des Hauses sich um einen Platz in der Nähe des wärmespendenden Feuers drängelten.
»Wir bleiben, wo wir sind, wenn Blücher uns ein Bataillon zur Verstärkung schickt«, erklärte der Herzog an einem Tisch, beladen mit Schüsseln vom Abendbrot. »Ah, Lady Carrington, Sie sind im Feldlazarett in Quatre Bras gewesen, sagte Ihr Mann.« Er winkte zur Begrüßung mit einem Kotelettknochen. »Kommen Sie ans Feuer und wärmen Sie sich auf. Carrington inspiziert gerade das Feld. Boney hat sich hinter der anderen Hügelkuppe
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