Bleib ungezaehmt mein Herz
Hoffnung bahnte sich einen Weg durch die schweren Erdschollen der Desillusion. Ihre Leidenschaft mußte doch etwas bedeuten! Sie konnte doch nicht eine vollkommene Lüge sein. Wenn er doch nur alles mit ganz anderen Augen betrachten könnte... seine vorgefaßte Meinung ablegen... eine andere Judith sehen könnte.
11.Kapitel
Bernard Melville, dritter Earl von Gracemere. Judith blickte durch den Ballsaal zu dem Mann hinüber, der ihren Vater ruiniert hatte, dem Mann, der George Devereux und seine Kinder aus England vertrieben und George Davenport erbarmungslos in den Tod getrieben hatte. Dem langsamen Aufflammen der Wut folgte das gleiche Prickeln der Erregung, das sie auch an den Spieltischen fühlte, wenn sie wußte, sie hatte ihre Mitspieler in der Tasche.
»Charlie, bist du mit dem Earl von Gracemere bekannt?«
»Natürlich. Sind das nicht alle?« Ihr Partner vollführte eine geschickte Drehung. »Du tanzt wundervoll, Judith.«
»Ich fürchte, eine Frau ist immer nur so gut wie ihr Tanzpartner«, stellte Judith lachend fest. »Ich habe Glück, daß du anscheinend eine natürliche Begabung besitzt.«
Charlie wurde rot.
»Nur schade, daß dieses Talent nicht in der Familie liegt«, sagte sie nachdenklich.
»Was meinst du?«
»Nun, dein Cousin hegt keine besondere Vorliebe für das Tanzparkett.«
»Nein, das hat er noch nie«, erwiderte Charlie. »Tatsächlich ist Marcus so ein langweiliger Kerl, daß ich glaube, er interessiert sich nicht die Bohne für irgend etwas anderes außer seinen Geschichtsbüchern und seiner Militärpolitik.« Sein Ton war verbittert.
»Habt ihr euch gestritten, du und Marcus?« erkundigte Judith sich. Charlies häufige Besuche im Devlin House hatten aus irgendeinem Grund in den letzten Wochen aufge-hört. Sie schaute ihn an und bemerkte den schmerzlichen Ausdruck in seinem Gesicht, den sorgenvollen Blick.
»Er ist so verdammt streng, Judith. Und er hat so veralterte Vorstellungen... er kann anscheinend nicht verstehen, daß sich ein Mann irgendwie amüsieren muß.«
»Das stimmt nicht ganz«, verbesserte Judith ihn sanft. »Marcus amüsiert sich oft bei sportlicher Betätigung und mit Pferden, und er hat eine ganze Reihe von Freunden, die ihn offensichtlich nicht für einen langweiligen Kerl halten.«
»Entschuldige«, meinte Charlie verlegen. »Ich habe wohl etwas Falsches gesagt... er ist dein Mann...«
»Ja, aber das heißt nicht, daß ich blind gegen seine Fehler bin«, sagte Judith mit trockenem Lächeln. »Er ist nicht übermäßig tolerant, was die Schwächen anderer angeht... oder was er für Schwächen hält, das garantiere ich dir. Hast du ihn in irgendeiner Weise verärgert?«
Charlie schüttelte den Kopf und versuchte zu lachen. »Ach nein, es ist nichts. Es wird sich schon bald alles klären... hast du genug vom Tanzen? Soll ich dir ein Glas Champagner holen?«
Judith ließ das Thema fallen, da Charlie eindeutig nicht weiter darüber reden wollte. »Nein, danke«, sagte sie. »Aber ich möchte, daß du mich mit dem Earl von Gracemere bekannt machst.«
»Sicher, wenn du möchtest. Ich gehöre natürlich nicht zu seinem Freundeskreis, deshalb kenne ich ihn nicht besonders gut, aber eine Vorstellung kann ich schon ermöglichen.«
Judith sah sich suchend nach Sebastian um. Sie entdeckte ihn auf der Tanzfläche, Arm in Arm mit Harriet Moreton. Er tanzte ziemlich oft mit Harriet Moreton, wie Judith bemerkte, obwohl schüchterne, sanftäugige, hübsche Siebzehnjährige normalerweise nicht seine Vorliebe waren. Judith heftete ihren Blick fest auf ihren Bruder, bis er von seiner Tanzpartnerin aufblickte. Er wußte, daß Judith heute abend ihrem gemeinsamen Feind vorgestellt werden wollte, eine Begegnung, in die er, Sebastian, sich ganz beiläufig einmischen würde. Er wartete nur auf Judiths Zeichen.
»Ich schwöre, das Land ist zu dieser Jahreszeit ein gräßlich öder Aufenthaltsort«, verkündete der Earl von Gracemere gerade der Gruppe von Leuten, die ihn umringte, als Judith und Charlie sich näherten. »Schlamm, nichts als Schlamm, so weit das Auge sieht.«
»Verstehe nicht, warum Sie nicht eher in die Stadt zurückgekehrt sind, Gracemere«, bemerkte einer der Männer.
»Oh, ich hatte schon meine Gründe«, erwiderte der Graf mit einem kleinen Lächeln. Sein Blick fiel auf Charlie und dessen Begleiterin, und sein Lächeln wurde breiter. »Ah, Fenwick, ich hoffe doch, Sie werden mich Ihrer charmanten Begleiterin, Lady Carrington, vorstellen, richtig? Ich habe
Weitere Kostenlose Bücher