Bleib ungezaehmt mein Herz
ist nicht deine Sache. Ich habe jetzt eine Verabredung und muß dich leider bitten, mich zu entschuldigen.«
Diskussion ist wohl kaum das richtige Wort, dachte Judith und trat einen Schritt zur Seite, als Marcus an ihr vorbei die Treppe hinunterging. Sie war sehr wirkungsvoll auf ihren Platz verwiesen worden, obwohl sie doch nichts weiter versucht hatte, als ihm Charlies Sicht der Dinge zu vermitteln. Andererseits hatte Marcus Devlin selbst keine Jugend gehabt, also konnte man von ihm schwerlich erwarten, daß er Verständnis für die Höhen und Tiefen dieses Stadiums hatte.
Sein Vater war gestorben, als er noch ein Junge war, und seine Mutter war seitdem Halbinvalidin gewesen. Es schien, als sei Marcus irgendwie übergangslos in die Erwachsenenwelt hineinkatapultiert worden - mit der immensen Verantwortung eines uralten Titels und eines enormen Vermögens. Und soweit Judith es beurteilen konnte, hatte er das Ganze ohne mit der Wimper zu zucken übernommen.
Aber wenn man es genauer bedachte, hatten auch sie und Sebastian keine richtige Kindheit gehabt. Judith verdrängte die düsteren Gedanken resolut, als sie in das Wohnzimmer zurückkehrte.
13. Kapitel
Die Atmosphäre in Sebastians Wohnzimmer in seiner Wohnung in Albemarle Street war entspannt und heiter. Die sechs Männer, die um den Kartentisch versammelt waren, saßen lässig in ihre Stühle zurückgelehnt, Gläser mit Rotwein neben sich, und alle strahlten die satte Selbstzufriedenheit von Gästen aus, die gerade ein vorzügliches Dinner genossen hatten.
Sebastian war ein aufmerksamer Gastgeber, und keiner seiner Gäste merkte, daß seine zielstrebige Konzentration nur einem in der Runde galt - Bernard Melville, Earl von Gracemere.
Gracemere hatte die Einladung zum Dinner und Makaospiel, ohne zu zögern, angenommen, und jetzt, da der erste Schritt seiner Strategie geklappt hatte, war Sebastian überzeugt, einen so gewieften Spieler auch weiterhin ködern zu können.
Es bereitete ihm keine Schwierigkeiten, so zu spielen, daß er gegen Gracemere verlor. Der Earl war ein höchst fähiger Kartenspieler, und es war kein Problem für Sebastian, einen überzeugenden Verlust einzufädeln. Gracemere hielt die Bank. Gelegentlich wanderte sein Blick über den Makaotisch zu seinem Gastgeber hinüber, der entspannt und nonchalant in seinem Armstuhl lehnte, anscheinend völlig unbekümmert über die Tatsache, daß seine Verluste schwerer als die jedes anderen am Tisch waren.
»Ihr Glück läßt Sie heute abend im Stich, Davenport«, bemerkte einer seiner Gäste.
Sebastian zuckte die Achseln und trank einen ordentli-chen Schluck Wein. »Es kommt und geht, lieber Freund. Was halten Sie von dem Rotwein?«
»Ausgezeichnet. Wer ist Ihr Weinlieferant?«
»Harpers in der Gracechurch Street.« Er schob einen Jeton in die Mitte des Tisches. »Ich sage an.« Er legte seine Karten auf den Tisch und schüttelte resigniert den Kopf, als Gracemere ihn um einen Punkt übertrumpfte. Gracemere leckte sich gierig über die Lippen, während er den neuen Verlust auf einem Zettel neben sich notierte.
Wut und Abscheu züngelten wie Giftschlangen in Sebastians Eingeweiden. Wie oft mochte Gracemere diesen Gesichtsausdruck gezeigt haben, als er mit George Devereux um dessen Erbe und Vermögen gespielt hatte? An welchem Punkt mochte er beschlossen haben, markierte Karten zu Hilfe zu nehmen? Gracemere war ein guter Spieler, aber nicht so gut, wie es Sebastians Vater gewesen war. Wann war er zu dem Schluß gekommen, daß er in einem fairen Spiel nicht gewinnen konnte?
Sebastian und Judith hatten unzählige Male versucht, sich dieses letzte, entscheidende Spiel vorzustellen, es zu rekonstruieren. Den Moment, als ihr Vater auch das letzte Blatt verlor, überzeugt, daß Gracemere markierte Karten benutzt hatte. Den Moment, als er im Begriff gewesen war, den Betrug seines Gegners aufzudecken und seine Verluste zurückzugewinnen. Und den schrecklichen Augenblick, als Gracemere die Karten aufgenommen, seinem Gegner heimlich eine gezinkte Karte untergeschoben und diese dann in Devereuxs Hand »entdeckt« hatte.
Was war danach passiert? Der letzte Brief ihres Vaters gab darüber keine Auskunft. Er hatte ihnen nur die vollständige Erklärung für das Leben geliefert, daß seine Kinder hatten führen müssen - eine Erklärung, die über ihr ursprüngliches Wissen von unüberwindlichen Spielschulden, die ihren Vater ins Exil gezwungen hatten, hinausging. Dieser Brief war eine Freisprechung von
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