Bleib ungezaehmt mein Herz
seine Brust und spielte müßig mit einer Locke auf ihrer Schulter. »Er war einfach ein Spieler, der alles verlor, sogar seinen Landbesitz, das Familienvermögen... alles.«
»Erzähl mir von ihm... von dir und Sebastian.«
Sie richtete sich auf seinem Schoß auf und starrte über das Schachbrett hinweg in die Flammen. »Er nahm uns mit, als er das Land verließ. Unsere Mutter war nicht in der Lage, die Schande zu ertragen. Sie zog sich in ein Kloster in den Alpen zurück und starb schließlich dort. Vater deutete einmal an, sie hätte sich das Leben genommen. Wir waren noch sehr klein, als wir England den Rücken kehrten. Sebastian war drei Jahre alt, ich knapp zwei. Wir reisten mit einer Reihe ständig wechselnder Kindermädchen, bis wir alt genug waren, allein zurechtzukommen: nach Wien, Rom, Prag, Paris, Brüssel und in fast jede andere Stadt dazwischen. Vater verbrachte seine Zeit am Spieltisch, und wir lernten, wie man mit Vermietern, Gerichtsvollziehern und Händlern umgeht. Bald lernten wir auch, uns allein mit Glücksspielen durchzuschlagen. Vater war oft krank.«
Judith brach ab und blickte in die Flammen. Geistesabwesend griff sie nach dem schwarzen Schachkönig. Das Schwarz war von unergründlicher Tiefe. Sie strich liebkosend mit den Fingern über die Figur.
»Was für eine Krankheit hatte er?« fragte Marcus leise, spürte die Ströme der Erinnerung in ihrem Körper, während sie auf seinem Schoß saß.
»Depressionen, schreckliche Anfälle unaufhaltsamer Verzweiflung«, erwiderte sie. »Während dieser Phasen war er nicht in der Lage, sein Bett zu verlassen. Sebastian und ich mußten selbst für uns sorgen... und für ihn.«
Marcus streichelte ihren Rücken, während er nach tröstlichen Worten suchte, doch plötzlich lachte Judith auf. »Es klingt schlimm, und so war es auch oft, aber es war auch aufregend. Wir sind nie zur Schule gegangen. Wir lasen, was wir gerade in die Finger bekamen. Niemand hat uns jemals gesagt, was wir tun oder nicht tun dürften, was wir essen sollten, wann wir ins Bett zu gehen hätten. Soweit es unsere Not erlaubte, haben wir nur das getan, was uns paßte.«
»Eine umfassende Erziehung, in gewisser Weise«, gab Marcus zu und zog Judith wieder an seine Brust. »Unüblich, aber vielschichtig. Eine Erziehung, die Jean-Jacques Rousseaus Zustimmung gefunden hätte.«
»Ja, ich nehme an, sie wäre ganz in seinem Sinne gewesen. Vor ein paar Jahren in Paris haben wir >Emile< gelesen.« Judith blickte wieder eine Weile in das Feuer. Es war kaum eine Erziehung, die Marcus sich für eines seiner Kinder wünschen würde. Aber er hatte sich ja gegen Kinder entschieden... zumindest gegen welche, die aus dieser Verbindung hervorgehen würden.
»Und?« fragte sie. »Spielen wir Piquet?«
»Nein«, erwiderte er. »Ich bin nicht länger bereit, um deine Nacktheit zu spielen. Ich kenne eine wirkungsvollere Methode, um sie zu erreichen.«
»Ah«, meinte Judith genußvoll und lehnte sich zurück. »Nun, vielleicht ist Geschwindigkeit von ausschlaggebender Bedeutung.«
»Ja, das glaube ich auch.«
14. Kapitel
Lady Letitia Moreton bildete sich ein, leidend zu sein, und gefiel sich offensichtlich in der Rolle der Kranken. Sie lehnte sich auf ihrer Chaiselongue gegen die dicken Kissenstapel zurück, ihre Riechsalzfläschchen und belebenden Tropfen in Reichweite neben sich. Sie war eine gutaussehende Frau, obwohl ihre Züge durch zuviel Selbstverzärtelung leicht schlaff wirkten, und ihre Stimme war ein einziges Wehklagen, gelegentlich von schrillen Tönen untermalt.
»Und Ihr Bruder ist kürzlich vom Kontinent herübergekommen, Lady Carrington?«
»Ja, Madam, aus Brüssel«, erwiderte Judith, die ihre schwesterliche Pflicht in Lady Moretons Wohnzimmer erfüllte. »Nach meiner Heirat beschloß er, sich in London anzusiedeln.«
Lady Moreton spielte mit den silbernen Fransen ihres Schals, ihr Blick ruhte auf Sebastian und Harriet. Die beiden saßen auf dem Sofa, Harriets hellbraunes Haar kontrastierte mit Sebastians kupferfarbenen Locken, während sie ein Buch mit Zeichnungen betrachteten. »Ich weiß leider nichts über Ihre Familie, Lady Carrington«, bemerkte sie.
Mit anderen Worten: Was ist Ihr Bruder wert? Judith hatte keine Schwierigkeiten, Lady Moretons Bemerkung zu interpretieren. Jede Frau mit Töchtern im heiratsfähigen Alter würde junge Gentlemen mit Titel und Vermögen so begeistert in ihrem Wohnzimmer empfangen, wie sie jene ohne solche Attribute hinausschicken
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