Bleicher Tod - Winkelmann, A: Bleicher Tod
klingelte.
Es war Eckert Glanz.
Nele hatte ihn total vergessen; das war ihr auch noch nie passiert.
»Wo bist du?«, fragte sie.
»In Hamburg. Bei dieser Firma, zu der du mich geschickt hast. ISS. Ist ein verflucht weiter Weg bei dem Wetter. Aber jetzt pass mal auf. Das klingt interessant. Der Geschäftsführer dieser Firma hat seinen Wohnsitz in Lüneburg. Ein gewisser Thomas Sadowski. ISS steht für Industrie-Service Sadowski.«
Geöffnet wurde die quietschende Holztür von einer alten Dame. Sie passte in die etwas heruntergekommene Kaufmannsvilla wie die berühmte Faust aufs Auge. Über dem züchtigen Ausschnitt der weißen Bluse trug sie drei Goldketten, ihr Haar war zu perfekten Locken gelegt, das von tiefen Falten durchzogene Gesicht dezent geschminkt.
Die Augenbraue hoch gezogen, sah die alte Dame Anou über den Rand einer Lesebrille hinweg an.
»Ja, bitte?«
Aus den Tiefen der Villa erklang ein Konglomerat an Geräuschen, auch weibliche Schreie waren darunter, aber jetzt, bei geöffneter Tür, wurde klar, dass sie einem Fernsehgerät entsprangen.
Anou war perplex. Sie hatte mit etwas völlig anderem gerechnet, hatte sich darauf eingestellt, die Tür gewaltsam öffnen zu müssen – und nun das!
Sie ließ die Waffe sinken.
Erst dadurch bemerkte die alte Dame sie, und ihre Augen weiteten sich. »Was soll das?«
Anou holte schnell ihren Dienstausweis hervor und zeigte ihn. »Wohnt hier ein Horst Schön?«, fragte sie.
Die alte Dame blickte verwirrt vom Ausweis auf und bemerkte dann Jochen Strauss im Hintergrund – ebenfalls mit gezückter Waffe.
Sie schlug eine flache Hand vor die goldbehangene Brust, atmete ruckartig ein und taumelte zurück.
»Ich verstehe nicht«, rief sie mit hysterischer Stimme.
Anou streckte in einer beruhigenden Geste ihre Hand aus.
»Regen Sie sich bitte nicht auf. Wir suchen Horst Schön. Wir müssen ihm ein paar Fragen stellen.«
Die alte Dame schnappte weiterhin nach Luft. »Horst … Mein Sohn … Was ist passiert … Wo ist mein Kind?«
Horst Schön war fünfundvierzig Jahre alt, schon deshalb klang die Bezeichnung »Kind« für Anou vollkommen falsch. Aber vielmehr auch wegen dem, was sie in der Katzengasse vorgefunden hatten. Sie suchten kein Kind, sondern ein Monster. Oder war das am Ende nur eine Frage des Blickwinkels?
Anou betrat den Vorflur der Villa.
»Frau Schön«, begann sie und berührte die alte Dame am Unterarm. »Können Sie uns sagen, wo Ihr Sohn sich aufhält? Es ist wirklich sehr wichtig.«
»Nein … Ich … Er müsste ja längst zuhause sein. Mein Gott, was ist denn passiert? Mir wird ganz anders.«
Und schon strauchelte Frau Schön und kippte mit der Schulter gegen die Wand.
Anou sprang vor, und es gelang ihr, die alte Dame zu packen, bevor sie zusammenbrach. Im Flur stand ein sündhaft teuer aussehender Stuhl, mehr Antiquität als Möbel, und mit Strauss’ Hilfe setzte sie Frau Schön hinein.
»Den Notarzt«, wies Anou ihren Kollegen an.
»Frau Schön«, versuchte sie es dann noch einmal, »wohnt Ihr Sohn hier bei Ihnen?«
Die alte Frau starrte sie aus feuchten, glasigen Augen an.
»Ist meinem Horst etwas passiert? Sagen Sie es mir bitte! Wo ist er denn nur?«
»Machen Sie sich bitte keine Sorgen.«
Anou tätschelte die Hand der alten Dame; sie fühlte sich sehr kalt an. Ihr war klar, dass sie von Frau Schön keine Informationen bekommen würde. Sie durfte aber auch keine Zeit verlieren, vor allem wegen Miriam Singer nicht, deswegen winkte sie eine Polizistin heran und trug ihr auf, sich um Frau Schön zu kümmern, bis der Rettungswagen eintraf.
Dann drang sie mit den anderen Beamten weiter ins Haus vor.
Im Wohnzimmer lief ein sehr laut gestellter Fernseher. Anou schaltete ihn aus. In die einsetzende Stille mischte sich Frau Schöns leises Schluchzen.
In Zweiergruppen nahmen die Beamten sich das Haus vor. Strauss blieb dabei an Anous Seite. Das komplette Haus war eingerichtet wie ein Museum, und es roch alt und muffig – aber von Horst Schön oder Miriam Singer fanden sie keine Spur. In der Garage parkte ein uralter roter VW-Golf; Wasser perlte von dem matten Lack. Die Motorhaube war noch warm. Nachdem die anderen Gruppen gemeldet hatten, dass sich im Haus keine weitere Person aufhielt, ging Anou durch eine Hintertür der Garage in den Garten hinaus. Wegen der Dunkelheit konnte sie nicht viel erkennen, aber der weite Garten wirkte wie eine Parkanlage.
Etwas zog ihre Aufmerksamkeit auf sich.
Das eckige,
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