Bleicher Tod - Winkelmann, A: Bleicher Tod
sie heraus und zog sogleich Hose und Schuhe an. Den BH konnte sie vergessen, den Pullover eigentlich auch, da er vorn in der Mitte durchtrennt war. Sie zog ihn aber trotzdem über. Er klaffte weit auseinander. Sie schlug einen Knoten hinein, sodass wenigstens ihre Brüste bedeckt waren.
Angezogen und mit dem langen Schraubenzieher in der Hand stand sie schließlich auf und fühlte sich schon viel besser.
Sie sah sich um.
Es gab nur zwei Türen in der großen Halle. Sie befanden sich rechts und links des Beckens an der Stirnwand vor ihr. Miriam ging auf eine davon zu und probierte die Klinke. Sie ließ sich öffnen und führte in einen Duschraum. Spinnenweben hingen in den Ecken, es roch muffig, die Armaturen waren abmontiert. In der gegenüberliegenden Wand war eine weitere Tür.
Bevor Miriam sie öffnen konnte, hörte sie ein Geräusch.
Sie waren mit vier Streifenwagen angerückt, sodass eine unauffällige Annäherung an das Objekt nicht möglich war. Deshalb ließen sie die Wagen auf dem schmalen Parkstreifen vor einem Friedhof stehen und gingen die letzten hundert Meter zu Fuß.
Anouschka blendete die Gedanken an Nele vollkommen aus, als sie aus dem Wagen stieg. Sie war aufgekratzt, förmlich elektrisiert, seitdem sie wusste, dass es nicht Miriam Singer war, die sie auf dem Dachboden in der Katzengasse gefunden hatten. Warum Schön dieses andere Mädchen zuerst getötet hatte, warum er sie so schnell und ohne sie vorher zu quälen getötet hatte, verstand Anou zwar nicht, aber das war jetzt auch nicht wichtig, darüber konnte sie später nachdenken.
Wichtig war jetzt nur, endlich Miriam Singer aus der Hand dieser Bestie zu befreien.
Anou hatte keine Zweifel daran, sie in dem Haus zu finden, dem sie sich jetzt näherten.
Der Einsatzleiter Jochen Strauss und sie führten den Trupp von neun Beamten an. Der Schnee dämpfte das Getrappel ihrer Schritte. Die Adresse, die sie in Horst Schöns PC gefunden hatte, lag am Stadtrand in einer alten, von Schlaglöchern übersäten Straße. In dieser Straße befanden sich sozusagen die letzten Häuser der Stadt, und das, in dem Horst Schön lebte, war das letzte am Ende dieser Straße. Eine blattlose, knorrige Hecke schirmte das Grundstück ab. Es gab ein Holztor in einem Jägerzaun, das aber nicht verschlossen war. In der Schneedecke der langen, geraden Auffahrt war die frische Fahrspur eines Autos zu sehen.
Er war also hier!
Anou und Jochen Strauss stoppten.
»Ich will hier keine Eskalation«, sagte Anou. »Er hat immer noch ein Opfer in seiner Gewalt, also sehen Sie und Ihre Leute zu, dass sie ihn nicht erschießen. Wenn er sie woanders als hier versteckt hat, finden wir sie sonst nie.«
Strauss nickte, ging zurück und wies seine Leute ein.
Anou konnte sich vorstellen, wie nervös die Männer und Frauen waren, schließlich taten sie so etwas, im Gegensatz zu den MEK-Leuten, nicht besonders häufig. Aber sie waren Polizisten, also musste es auch mal so gehen. Letztendlich hatten sie es nur mit einer einzigen Person zu tun … Andererseits – was hatte das schon zu sagen. Damals, in den Wäldern der Eibia, hatte ein ganzes verfluchtes Sondereinsatzkommando nicht gereicht, um Karel Murach zu fassen. Dass hatte sie ganz allein tun müssen.
Strauss kam zurück. Seine Zunge fuhr über seine Oberlippe, er suchte nervös die Gegend ab.
»Okay. Wir können.«
Anou nickte, zog ihre Waffe und ging voran.
Als sie aus dem Schutz der hohen Rhododendren heraustrat, bekam sie zum ersten Mal freien Blick auf das Haus. Es handelte sich um eine alte Kaufmannsvilla im Stil der freien Hansestädte, die früher einiges hergemacht haben musste, jetzt aber wie ein Geisterschloss wirkte. Eine große Garage war direkt an das Haus angebaut. Die Reifenspuren verschwanden darin. Hinter der Garage stand noch ein weiteres, lang gestrecktes Gebäude, das Anou in der Dunkelheit nicht richtig erkennen konnte. Es wirkte wie ein Gewächshaus oder etwas Ähnliches.
Im Haus selbst brannte hinter drei Fenstern im Erdgeschoss Licht, außerdem warf die große, gusseiserne Lampe über der Eingangstür ein gelbes Rechteck in den Schnee.
An der Hausecke angekommen, teilte Strauss seine Leute auf. Eine Hälfte bewegte sich leise zur Rückseite des Gebäudes, während er selbst und die andere Hälfte Anou zur Vordertür folgten.
Anou fiel auf, dass keine Trittspuren von der Garage zum Haus führten. Folglich musste es eine direkte Verbindung geben. Sie wies Strauss darauf hin, und der postierte
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