Bleicher Tod - Winkelmann, A: Bleicher Tod
einer halben Stunde bestimmt. Tun Sie mir den Gefallen und essen Sie etwas. Das wird Ihnen gut tun.«
»Okay, ich versuch’s.«
Schwester Yvonne verschwand. Kurz darauf kam ein junger Mann mit stark aufgegeltem Haar herein, stellte mit einem scheuen Lächeln ein Tablett auf dem Tisch neben ihrem Bett ab und schwenkte diesen direkt vor Miriams Bauch. »Guten Appetit«, sagte er und ging.
Zwei Scheiben Toast. Käse. Marmelade. Butter. Eine Tasse Tee, die nach Pfefferminze roch und noch dampfte. Ein Glas Orangensaft.
Miriams Magen fühlte sich an wie versteinert. Sie hatte wirklich keinen Hunger. Aber zumindest den Tee wollte sie versuchen, allein schon, weil ihre Fingerspitzen so eiskalt waren.
Es klopfte an der offen stehenden Tür.
»Darf ich?«, fragte eine weibliche Stimme.
»Ja, natürlich.«
Miriam war im ersten Moment enttäuscht, weil die Polizistin keine Uniform trug. Sie verband Polizisten immer mit Uniformen und hatte einen Heidenrespekt davor. Am Fußende des Bettes aber stand eine bildhübsche, dunkelhaarige, schlanke Frau mit kakaofarbener Haut. Sie trug enge Bluejeans, Lederstiefel und dazu eine braune Lederjacke über olivfarbener Bluse. Um die Mundwinkel hatte sie einen harten Zug. Ihre dunklen Augen beobachteten sie vom ersten Moment an sehr genau.
»Guten Morgen. Ich bin Anouschka Rossberg, Kripo Lüneburg. Sie sind Frau Singer?«
Miriam nickte. Ihre Finger hatte sie um die wunderbar heiße Teetasse geschmiegt.
»Wie geht es Ihnen?«
»Ich weiß nicht … Wahrscheinlich ganz gut. Ich bin ja gerade erst aufgewacht. Haben Sie mich gestern Nacht hierhergebracht?«
»Nein, das waren die Kollegen von der Streife. Die haben mir schon einiges berichtet, aber ich bin dennoch auf Ihre Aussage angewiesen. Fühlen Sie sich dazu in der Lage, mir zu erzählen, was Ihnen gestern Nacht zugestoßen ist?«
Die Polizistin zog einen Notizblock und einen Kugelschreiber aus der Jackentasche und kam seitlich ans Bett. Die Art, wie sie sprach und sie ansah, empfand Miriam als hart und zudringlich, so als sei sie der Straftäter, der verhört werden sollte. Vielleicht war sie aber auch nur ein bisschen empfindlich. Wäre ja kein Wunder, nach so einer Sache.
»Also haben Sie den Typen nicht gekriegt?«, fragte Miriam.
»Der Sie angegriffen hat? Nein, haben wir nicht. Dafür war schon zu viel Zeit vergangen. Aber wir haben Ihren Wagen gefunden. Er stand noch an der Stelle, die Sie beschrieben haben. Unversehrt. Ihr Handy und Ihre Sporttasche waren auch noch drin. Ein Kollege kümmert sich darum, dass alles zu Ihnen nach Haus gebracht wird.«
»Toll. Danke.«
Miriam trank von dem Tee, der überraschender Weise gut schmeckte.
»Können Sie mir erzählen, was genau vorgefallen ist?«, bat die Polizistin erneut.
»Ich will Anzeige erstatten«, sagte Miriam, die sich plötzlich an ihre Wut von gestern Nacht erinnerte. Diese Wut hatte sie aus dem Graben heraus bis auf die Straße angetrieben. Die Wut auf diesen blöden Wichser, der geglaubt hatte, ihr etwas antun zu können. »Dieser … Dieses Schwein darf auf keinen Fall ungestraft davonkommen!«
Anouschka Rossberg ließ Stift und Block sinken, sah sie an und lächelte. Dieses Lächeln verwirrte Miriam. Die Polizistin war hübsch, eine richtige Schönheit. Umso unpassender schien der harte Zug um den Mund, und auch ihr Lächeln war von eher berechnender, zynischer Art.
»Deswegen bin ich hier. Und wenn ich jemandem auf den Fersen bin, kriege ich ihn auch. Aber dazu muss ich erst einmal wissen, was vorgefallen ist.«
»Der Typ wollte mich umbringen, das ist vorgefallen.«
Während Miriam den Tee trank, und nun doch zu essen begann, rekapitulierte sie den gestrigen Abend. Frau Rossberg machte sich Notizen und bat sie schließlich, ihr die örtlichen Gegebenheiten so genau wie möglich zu schildern. Dazu reichte sie ihr Block und Zettel und ließ sie eine Skizze anfertigen. Miriam warnte sie, dass diese sehr ungenau werden würde, da es ja dunkel gewesen sei, und sie eigentlich kaum etwas gesehen habe, aber die Polizistin beharrte darauf. Also skizzierte sie mit flinken Strichen einen Schotterweg mit flachen Gebäuden rechts und links davon, eine weitere Straße, Felder, den tiefen Geländeeinschnitt und den Wald.
»So ungefähr muss die Gegend dort aussehen.«
Frau Rossberg tippte auf die Stelle zwischen den Gebäuden. »Dort konnten Sie ihm entkommen?«
Miriam nickte. »Da wollte er mich aus seinem Wagen holen, aber er hat nicht damit gerechnet, dass
Weitere Kostenlose Bücher