Bleicher Tod - Winkelmann, A: Bleicher Tod
Mull darauf und verklebte alles mit reichlich Pflaster. Dabei wurde ihr schwindelig. Langsam sackte sie zu Boden, krümmte sich zusammen und begann unkontrolliert zu zittern.
Er hat dir noch nie eine blutende Wunde zugefügt, sagte der rationale Bereich.
Sie erwachte orientierungslos und ohne Erinnerung und starrte zu einer weißen Zimmerdecke empor. Ein Riss zog sich quer durch den Putz, und ihr erster Gedanke war, dass sie selbst durch diesen Riss gefallen war. Aus ihrer eigenen Welt in diese. Dann wanderte ihr Blick zur Wand, die hellgrün gestrichen war und an der kleine Landschaftsbilder in aufmunternden Farben hingen. Nette Bilder, keine furchterregenden, wie sie sie eben im Traum noch verfolgt hatten.
Um sie herum erklangen fremdartige Geräusche. Lautes Klappern, Gesprächsfetzen, Quietschen von Schuhen auf Linoleum. Unter einen durchdringend chemischen Geruch mischte sich der Duft von frischem Kaffee.
Ihr nächster Blick ging zum Fenster hinüber, durch das graues Licht hereinfiel. Sie sah die Krone eines blattlosen Baumes, die Rinde von weißem Raureif überzogen. Eine Krähe saß in einer Astgabel und starrte zu ihr herüber. Das Federkleid des Vogels glänzte genauso wie seine tiefschwarzen Augen. Ein dünner Ast des Baumes tanzte im Wind auf und nieder, schien ihr zuzuwinken, und irgendwas an diesem Bild befreite die Erinnerung aus ihrem Käfig.
Ich bin ihm entkommen!
Gott sei Dank! Ich bin ihm entkommen!
Sie faltete die Hände vor ihrem Bauch, um ein kurzes Gebet zu sprechen. Selten war das Gefühl der Dankbarkeit dabei so inbrünstig gewesen wie jetzt. Miriam Singer spürte eine Träne ihre rechte Wange hinablaufen.
»Guten Morgen!«
Eine Frau erschien in der Tür und kam schnellen Schrittes auf ihr Bett zu. Zu einer weißen Hose trug sie eine weiße Bluse in modisch engem Schnitt. Über der linken Brust war ein Namensschild befestigt, auf dem in roten Großbuchstaben »Schwester Yvonne« stand. Sie war über sechzig, hatte kurzes braunes Haar und trug eine braune Brille mit breitem Rahmen.
»Schön, dass Sie wach sind, da kann ich Ihnen … Aber, aber, wer wird denn weinen«, sagte sie in mütterlichem Tonfall und nahm Miriams Hand. »Ist doch alles in Ordnung, mein Kind.«
Miriam nickte und wischte sich die Träne weg. »Wo bin ich … Ich meine, wo genau?«
Schwester Yvonne ließ ihre Hand los, zauberte von irgendwo ein Fieberthermometer her und steckte es ihr zwischen die Lippen.
»Im Zentralkrankenhaus. Die Polizei hat Sie gestern Nacht hierhergebracht. Wir haben Ihnen ein Beruhigungsmittel verabreicht, deshalb war Ihr Schlaf etwas tiefer als gewöhnlich. Aber das wird schon. Sie werden sich gleich an alles erinnern.«
»Bin … Bin ich verletzt?«
»Ach was, nichts Schlimmes«, sagte die Schwester und machte eine abwinkende Handbewegung. »Eine tiefe Schramme vom Oberschenkel bis über den Bauch, ein paar Risse an den Beinen, nichts davon musste genäht werden. Nur gereinigt, desinfiziert und verbunden. Sie waren ein bisschen unterkühlt und standen unter Schock. Sie müssen einiges durchgemacht haben. Können Sie sich daran erinnern?«
Miriam lehnte sich ins Kissen zurück. Ja, sie konnte sich erinnern. Jetzt war alles wieder da, mit all den erschreckenden Details.
In dem Auto, das neben ihr gehalten hatte, hatte eine junge Mutter mit ihrer kleinen Tochter gesessen. Miriam konnte noch den erschrockenen und verängstigten Blick der beiden sehen. Trotzdem hatte die Frau sie mit zu sich nach Hause in die kleine Ortschaft genommen, deren Lichter Miriam angepeilt hatte, seit sie diesem Typen entkommen war. Die Frau hatte ihr heißen Tee gemacht, sie in warme Decken gehüllt und die Polizei gerufen. Zwei Beamte in Uniform hatten sie von dort abgeholt und dann … An der Stelle brach ihre Erinnerung ab. Hatte sie den Polizisten erzählt, was passiert war? War sie vor Erschöpfung auf dem Rücksitz eingeschlafen? Miriam wusste es nicht mehr.
Das Thermometer wurde ihr aus dem Mund gezogen. Schwester Yvonne betrachtete es mit kritischem Blick. »Leicht erhöhte Temperatur … Würde mich nicht wundern, wenn Sie eine ordentliche Erkältung bekommen. Am besten, Sie frühstücken erst einmal, danach lasse ich die Polizistin zu Ihnen. Die wartet schon seit einer halben Stunde.«
»Können Sie sie gleich holen?«, fragte Miriam.
»Wenn Sie das wollen.«
»Bitte.«
»Gut. Das Frühstück auch dazu?«
»Ich … Ich glaube, ich habe keinen Hunger.«
»Jetzt vielleicht nicht, aber in
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