Bleicher Tod - Winkelmann, A: Bleicher Tod
kommt der Rollentausch, mein Hübscher«, sagte sie und lächelte verschmitzt.
Da sie ausgebildete Krankenschwester war, konnte sie das große Pflaster über ihrem rechten Auge selbst wechseln. Das hätte nicht unbedingt schon sein müssen, aber Nicola wollte es. Sie musste die Wunde sehen.
Dreimal hatte er im Laufe des Tages angerufen und versucht, sie zu einem Neuanfang zu überreden. Nicola wusste selbst nicht, warum sie jedes Mal wieder abgenommen hatte, und sie würde es auch nicht wieder tun, denn beim letzten Anruf hatte er sie beinahe so weit gehabt nachzugeben. Er hatte von einem Urlaub gesprochen, gleich nächste Woche.
Nur du und ich. Du wolltest doch immer in die Dominikanische Republik. Da fahren wir hin, was hältst du davon?
Sie hatte das Zögern in sich gespürt, die Unsicherheit, diesen verfluchten Wunsch, dass alles so sein sollte wie früher. Deshalb wollte sie die Wunde sehen. Sie war ein sicherer Beleg dafür, dass es nie mehr so sein würde wie früher.
Mit zusammengebissenen Zähnen stand sie vor dem Spiegel und zog das Pflaster ab. Es tat weh.
Rings um die Narbe war ihre Haut rotbraun von der Jodtinktur, die sie im Krankenhaus benutzt hatten. Das Gewebe war noch stark geschwollen, und an der rechten Seite ragten die Enden der Fäden heraus. Die Narbe sah hässlich aus, fast wie ein Mund.
Aber der Anblick half. Er holte die Erinnerung an den Zwischenfall im Bad zurück, holte das Gefühl zurück, in ihrem eigenen Blut ertrinken zu müssen.
Nachdem Nicola das Pflaster wieder draufgeklebt hatte, schaute sie sich noch einen Moment im Spiegel an. Ihr Mann hatte ihr nicht nur die Narbe angetan, da war noch mehr. Ihre Augen zum Beispiel. Ihre Augen hatte sie schon als Teenager gemocht. Sie waren groß und strahlend blau gewesen und hatten das Sonnenlicht eingefangen. Aber das war lange her. Heutzutage war das Blau verwaschen von zu vielen Tränen, die Ringe unter ihren Augen waren zu dunkel und die Falten zu tief für ihr Alter.
Nicola wandte sich von ihrem Spiegelbild ab. Ihr eigener Anblick machte sie traurig.
Sie ging in die Küche hinunter und setzte Teewasser auf. Als das Wasser kochte, brühte sie sich einen Kamillentee auf, nahm die Tasse mit ins Wohnzimmer, setzte sich auf die Couch, schlug die Beine unter und überlegte.
Sollte sie die Polizei informieren?
Sie könnte seine ständigen Anrufe als Grund vorgeben, sie dann in die Garage führen und ihnen zeigen, was sie gefunden hatte. Aber gesetzt den Fall, die Beamten würden herauskommen, was konnte sie ihnen überhaupt präsentieren? Köpfe von Schaufensterpuppen mit weißem Haar. Knochen und vergammelte Fleischreste in Behältern, die dafür sogar vorgesehen waren.
Verhaften Sie meinen Mann! Er lässt Fleisch vergammeln und quält Schaufensterpuppen.
Nicola ahnte, wie lächerlich sie sich damit machen würde. Allerdings ahnte sie auch, dass diese Sachen in der Garage bedeutsam waren.
Seit sie ihren Mann kannte, hatte sie es niemals erlebt, dass er Zeit verschwendete. Er hatte nie ein Hobby gehabt. Hobbys sind etwas für Versager, das war sein Credo. Was er tat, tat er mit hundertprozentigem Einsatz, denn er wollte in allem immer der Beste sein. Sein ganzes Leben schien allein darauf ausgerichtet zu sein und war dementsprechend zielgerichtet. Er tat nichts einfach so, weil er gerade Lust dazu hatte.
Was auch immer er in der Garage getrieben hatte, war wichtig für ihn. Er verfolgte ein bestimmtes Ziel damit.
Aber welches?
Diese Frage hatte sich Nicola immer wieder gestellt, seit sie in der Garage gewesen war, fand aber keine Antwort darauf. Um sich abzulenken und weil sie die Stille nicht länger ertragen konnte, schaltete sie den Fernseher ein, streckte sich auf der Couch aus und zog die braune Wolldecke bis unters Kinn. Minuten später war sie eingeschlafen.
Und wurde durch einen heftigen Schlag geweckt.
Sie erschrak und schnellte hoch.
Hatte sie geträumt?
Im Fernsehen lief eine Talkshow, von dort konnte der laute Schlag also nicht gekommen sein.
Sie blieb sitzen und lauschte.
Wumm!
Nicola presste sich in die Polster und zog die Decke vor die Brust, als könne die sie vor irgendetwas schützen.
Jemand hatte gegen das Glas des Küchenfensters geschlagen, und dafür kam nur einer in Frage. Es war ja klar, dass er es früher oder später versuchen würde. Er konnte gar nicht anders.
Aber würde er so weit gehen, ein Fenster einzuschlagen?
Nicola überlegte, wo sie die Karte der Polizistin gelassen hatte.
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