Bleicher Tod - Winkelmann, A: Bleicher Tod
Schmerzen. Der Täter beginnt aber mit einer niedrigen Konzentration, das wissen wir seit gestern Abend, deswegen sterben die Opfer nicht sofort. Er quält sie über einen Zeitraum von mehreren Tagen. Am Ende verwendet der Täter eine hoch konzentrierte Lösung, welche die Haut großflächig verätzt und tief ins Gewebe eindringt. Das Opfer stirbt aber schon vorher durch das Einatmen der Dämpfe. Ich habe diese bekannten Fakten für einen Abgleich in die ViClas-Datenbank eingegeben und folgendes Ergebnis erhalten: Es gibt keine weiteren, ähnlich gelagerten Fälle.
Andere Taten, bei denen Säuren eingesetzt wurden, hatten das Töten des Opfers oder das zuverlässige Vernichten von Spuren zum Ziel. Bei unserem Täter aber steht die Misshandlung des Opfers im Vordergrund. Das Töten scheint hierbei zweitrangig zu sein.«
Dr. Sternberg machte eine Pause, schlug etwas in ihren Unterlagen nach und sah dann wieder auf.
»Am Beginn einer Tatortanalyse steht immer eine Frage: Was hat der Täter getan, was er nicht hätte tun müssen, um das Opfer zu töten? Was hat also nichts mit der rein pragmatischen Ausführung des Mordes zu tun? Denn genau an dieser Stelle offenbaren sich die Bedürfnisse und Phantasien des Täters. Hier gibt er sich ein Stück weit zu erkennen.
Welche Rückschlüsse lässt diese sehr spezielle Vorgehensweise des Täters zu? Leider nur sehr eingeschränkte, weil wir keinerlei Vergleichsmöglichkeiten haben. Der Täter verändert das Opfer. Das Opfer wird sauber und gleichzeitig gebleicht. Sein Bedürfnis könnte eine saubere Frau mit sehr heller Haut sein. Dabei steht die Veränderung im Vordergrund, nicht der Tod. Das Opfer ist austauschbar, deshalb ist die Gefahr einer Tatwiederholung sehr groß.«
»Woher wollen Sie wissen, dass es ihm nicht um speziell dieses Opfer ging? Wir kennen ja noch nicht einmal die Identität?«, fragte Anou.
Nele fand, dass die Frage etwas patzig klang.
Dr. Sternberg schien es nicht zu stören.
»Gute Frage«, sagte sie. »Nach meiner Auffassung kannten sich Täter und Opfer nicht oder nicht besonders gut. Untersuchungen haben gezeigt, dass sexueller Missbrauch und Gewalt intensiver sind, wenn Täter und Opfer sich kennen.«
»Wie kann Gewalt denn noch intensiver sein als hier?«, warf Anou ein.
»Auf den ersten Blick, da gebe ich Ihnen Recht, strotzt diese Tat nur so vor Gewalttätigkeit. Aber vergegenwärtigen Sie sich bitte, dass der Täter sein Opfer nicht einmal berühren musste, um seine Tat auszuführen. Er hat es mit einem Hilfsmittel aus einiger Entfernung missbraucht und getötet. Das spricht gegen eine Bekanntschaft, die über reinen Augenkontakt hinausgeht.«
Dr. Sternberg hielt inne, sah Anou an und gab ihr die Chance für einen weiteren Einwand, doch es kam keiner mehr. Anou wirkte nachdenklich.
»Kommen wir jetzt zu den Merkmalen des Täters.«
Die Psychologin nahm einen schwarzen Edding zur Hand und trat an das Flip-Chart.
Er ist zwischen 25 und 45 Jahre alt.
Er ist überdurchschnittlich intelligent.
Er ist berufstätig, seine Arbeitszeit ist aber flexibel.
Er ist wahrscheinlich verheiratet und hat Kinder.
Er besitzt polizeiliche Vorkenntnisse.
Er ist körperlich fit.
Er fährt einen großen Wagen, Kombi oder Lieferwagen.
Er ist ein Soziopath.
Der Edding flitzte quietschend über das Papier, bis sie die Kappe aufsetzte und ihn beiseitelegte.
»Folgende Beobachtungen liegen diesen Annahmen zugrunde: Die Tat im Maststall erforderte einen hohen Planungsgrad, die Tat im Hause Singer große Flexibilität. Der Einsatz von Wasserstoffperoxid erfordert sehr gute Kenntnisse auf diesem Gebiet, ebenso der Einsatz von Scopolamin zur Betäubung des Opfers. Der Täter hat bisher keine eigenen Spuren hinterlassen. Er war auf die Bewachung von Frau Singer vorbereitet und hat sich davon nicht abhalten lassen. Er kann sein Opfer nicht mit zu sich nach Hause nehmen. Der Satz an der Wand im Schlafzimmer von Frau Singer ist typisch für einen Soziopathen. Seine Reaktion auf den missglückten ersten Entführungsversuch ebenso.«
Sie nahm den Stift noch mal zur Hand und schrieb zwei weitere Wörter hinzu.
Geographische Verankerung.
»Der Täter kommt aus der näheren Umgebung. Sonst hätte er nicht derart schnell auf die geänderten Bedingungen reagieren können. Mörder weisen eine Art Raubtierverhalten auf. Das heißt, ihr Wohnort oder Arbeitsplatz, wo sie sich täglich zeigen, stellt eine Tabuzone dar. Sie töten ihre Opfer außerhalb dieser Zone. Ich
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