Bleicher Tod - Winkelmann, A: Bleicher Tod
Jederzeit, hatte Tanja Schildknecht gesagt, rufen Sie mich jederzeit an.
Wo war die Karte?
Vielleicht an der Pinnwand in der Küche, an der sich alle wichtigen Telefonnummern befanden.
Es kostete Nicola große Überwindung, die schützende Decke loszulassen und von der Couch aufzustehen. Auf Socken schlich sie geräuschlos in den Flur. Die Tür zur Küche war nur angelehnt. Ohne Licht zu machen drückte sie sie auf und spähte hinein. Es war nicht völlig dunkel darin; die beiden kleinen grünen Lämpchen am Kühlschrank spendeten gespenstisches Licht. Die Pinnwand hing direkt neben dem Fenster.
Nicola sah sofort, dass von außen etwas Weißes am Küchenfenster klebte. Sie wollte gerade hinübergehen und nachsehen, als sie ein allzu bekanntes Geräusch hörte: das Garagentor!
Sie erstarrte.
Hatte sie die Verbindungstür abgeschlossen?
Schnell lief sie durch die Küche in den kurzen Flur und sah schon von weitem den Schlüssel im Schloss stecken. Aber hatte sie ihn umgedreht? Hatte sie abgeschlossen?
Noch bevor sie die Tür erreichte, bewegte sich die Klinke wie von Geisterhand. Nicola unterdrückte einen Schrei, schlug sich beide Hände vor den Mund und stoppte mitten im Lauf.
Die Klinke wurde hinabgedrückt, dann rüttelte er vorsichtig an der Tür.
Sie war zu.
Dem Himmel sei Dank, sie war zu!
Die Hände weiterhin vor dem Mund und die Tür im Blick, schob Nicola sich zurück in die Küche. Dort ging sie zum Fenster, hielt sich aber hinter den Vorhängen versteckt. Das Weiße am Glas war ein Stück Papier. Mit einem dicken schwarzen Stift waren große Worte darauf geschrieben.
»Du Miststück. Glaub ja nicht, du würdest gewinnen.«
Nicola blickte an dem Zettel vorbei in den Hof, der von dem fahlen Licht aus der Garage beleuchtet wurde. Hinter dem Vorhang versteckt beobachtete sie, wie er aus der Garage kam. In jeder Hand trug er einen der großen Kunststoffkanister, die unter dem Regal gestanden hatten.
Plötzlich blieb er stehen und blickte zum Küchenfenster hinüber. Er war keine zwei Meter entfernt. Konnte er sie durch die Vorhänge sehen? Wahrscheinlich nicht, da es drinnen ja dunkel war, aber er konnte sich denken, dass sie ihn beobachtete.
Er starrte herüber.
Eine volle Minute lang an.
Mit einem Blick, wie sie ihn bei ihm noch nie gesehen hatte. War er es selbst, oder war es Der Andere? Oder waren sie zu einer einzigen Person verschmolzen und damit ungleich gefährlicher und furchterregender als jemals zuvor?
Nicola wusste es nicht, aber dieser Blick fraß sich tief in ihre Seele.
Montag, 1. März 2010
Um Punkt acht Uhr stand Frau Dr. Sternberg am Kopfende des Tisches im Besprechungsraum. Sie trug eine schwarze Stoffhose, eine violette Bluse unter einem schwarzen Blazer und eine Brille mit breitem Rahmen, durch den sich ein violetter Farbstreifen zog.
Zur Besprechung hatten sich Nele Karminter, Anou Rossberg, Eckert Glanz, Holger Sälzle sowie die Streifenpolizisten Arthur Alpert und Steffen Roth eingefunden. Außerdem war Kriminalrat Dag Hendrik anwesend, der sich nicht entgehen lassen wollte, was die OFA-Psychologin zu sagen hatte.
Jeder hatte einen dampfenden Becher Kaffee vor sich stehen, Nele zusätzlich noch eine Flasche Wasser, die sie aber schon längst geleert hatte. Schon nach dem Aufstehen hatte sie sich regelrecht ausgedörrt gefühlt.
Frau Dr. Sternberg räusperte sich.
»Meine Damen und Herren, mir ist klar, wie sehr Sie alle in dieser Sache unter Zeitdruck stehen. Deshalb habe ich mich auf Bitten von Kriminalrat Hendrik bereit erklärt, schon jetzt eine vorläufige Tatortanalyse vorzustellen. Anspruch auf Vollständigkeit erhebt sie durch die wenige Zeit, die mir zur Verfügung stand, nicht, ich hoffe aber trotzdem, Ihnen damit etwas an die Hand geben zu können, das Sie bei Ihren Ermittlungen unterstützt.
Bei allem, was Sie gleich hören werden, geht es nicht darum, Ihnen eine psychodiagnostische Beschreibung der Persönlichkeitsstruktur des Täters zu liefern. Das würde Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt der Ermittlungen ohnehin nicht helfen. Vielmehr geht es darum, aus der Tatortanalyse einige Persönlichkeitsmerkmale des Täters herzuleiten, die helfen können, den Täterkreis einzuengen. Hat dazu jemand Fragen?«
Sie ließ ihren Blick über die Runde schweifen.
Niemand hatte Fragen.
»Gut. Dann möchte ich zunächst die Fakten zusammenfassen.
Der Täter benutzt Wasserstoffperoxid. Die Haut und das Haar des Opfers werden blass oder weiß, es leidet unsagbare
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