Bleicher Tod - Winkelmann, A: Bleicher Tod
gehe davon aus, dass der Täter in der Stadt arbeitet und in der Randzone wohnhaft ist. Ich gehe von einem Mehrfamilien- oder Reihenhaus aus, schließe aber auch ein frei stehendes Haus nicht aus, dort lebt er dann aber mit seiner Familie.
Aufgrund der sadistischen Vorgehensweise des Täters unterstelle ich ihm deviante sexuelle Phantasien, die er im Alltag nicht ausleben kann. Solch ein Unterdrückungs- oder Vermeidungsverhalten führt langfristig zu großem Stress. Dieser wird durch die momentane Situation noch verstärkt. Sehr wahrscheinlich ist der Täter gegenüber seiner Lebenspartnerin bereits gewalttätig geworden oder wird es in Kürze.«
Dr. Sternberg trat an das Kopfende der zusammengeschobenen Tische zurück.
»Wie ich eingangs schon sagte, dies ist kein Täterprofil, sondern eine Tatortanalyse. Täterprofile werden durch die OFA-Teams in dreitägigen Gruppendiskussionen erarbeitet, sodass frühestens gegen Ende dieser Woche damit zu rechnen sein wird. Eines will ich Ihnen zur Psyche des Täters aber doch mit auf den Weg geben.«
Sie schwieg einen Moment, bis es um sie herum mucksmäuschenstill war und alle Anwesenden gespannt darauf warteten, dass sie weitersprach.
»Nachdem sein Versteck gefunden wurde, war er nicht bereit, unterzutauchen und Zeit vergehen zu lassen. Stattdessen wurde er aktiv und nahm ein hohes Risiko in Kauf. Ich glaube, er verliert die Kontrolle über sich, und unter diesem immensen Druck wird sein Aggressionspotential noch steigen.
Seien Sie also äußerst vorsichtig!«
Er hielt ihr die Tür zum Café del Sole auf.
Jördis drängte sich mit einem Lächeln dicht an ihm vorbei und roch teures Parfum, leider viel zu dick aufgetragen. Überhaupt hatte er sich für ein zwangloses Frühstück übertrieben elegant angezogen.
Horst Schön trug einen halblangen schwarzen Wollmantel, den er nicht geschlossen hatte, sodass Jördis darunter einen dunkelgrauen Anzug mit Nadelstreifen, ein weißes Hemd und eine passende silberfarbene Krawatte erkennen konnte.
Sie selbst trug eine legere Bluejeans, eine eng geschnittene beige Bluse und darüber ihren warmen braunen Mantel, der sie vor dem immer noch stark böigen Wind schützte.
»Nur hereinspaziert«, sagte Horst Schön. Sein selbstbewusstes Lächeln entblößte auffällig weiße Zähne. Sie wirkten gebleicht, fand Jördis.
Neben Alex im Bett liegend hatte sie gestern Abend noch bei Schön angerufen und um ein Treffen gebeten. Aber nicht im Literaturcafé, darauf hatte sie bestanden, sondern an einem öffentlichen Ort, und sie hatte sogleich das große, immer gut besuchte Café del Sole vorgeschlagen. Schön war, ohne zu zögern, darauf eingegangen. Jördis hatte ihm vorgespielt, unbedingt seine Meinung zu ein paar Manuskriptseiten hören zu wollen, und zwar, ohne dass ihre Freundin Carla oder sonst jemand dabei war. Alex hatte im Anschluss an das Telefonat gemeint, mit der zuckersüßen Stimme, die sie aufgesetzt hatte, hätte sie Schön auch direkt ins Gefängnis locken können.
Die Geräuschkulisse des Restaurants hüllte sie ein. Es war groß und hoch und im kubanischen Stil eingerichtet. Die Wände bestanden aus Holz, ebenso der Fußboden, überall standen meterhohe Grünpflanzen herum. Zehn Uhr war eine beliebte Brunchzeit, dementsprechend voll war es. Die meisten Tische waren besetzt, doch nachdem Horst Schön sich umgeschaut hatte, dirigierte er Jördis zu einem kleinen runden Tisch neben dem Eingang zu den Toiletten. Ohne eine Bedienung zu fragen, schob er den Tisch kurzerhand weiter weg, sodass nur noch zwei Personen daran sitzen konnten, weil eine Seite an einer Palme stand.
»Selbst ist der Mann«, sagte Jördis anerkennend und ließ sich von ihm aus dem Mantel helfen.
Er brachte ihren und seinen Mantel zur Garderobe und kehrte zu ihrem Tisch zurück.
Jördis hatte sich mittlerweile gesetzt. Wahrscheinlich hätte er ihr auch noch den Stuhl zurechtgerückt, wenn sie ihn gelassen hätte, aber sie wollte es nicht übertreiben.
Neben ihr auf dem Tisch lag die grüne Mappe, in der sich ein paar beschriebene Blätter Papier befanden. Zwei Stunden hatten sie und Alex gestern Nacht daran herumgefeilt, nur um festzustellen, dass es gar nicht so einfach war, einen vernünftigen Anfang für eine Geschichte zu erfinden. Letztendlich war es viel weniger Text geworden, als sie sich vorgenommen hatten, also würde Jördis es so lange wie möglich hinauszögern müssen, ihn einen Blick hineinwerfen zu lassen. Aber das würde sie
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