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Bleiernes Schweigen

Bleiernes Schweigen

Titel: Bleiernes Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Fogli
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Andrea. An die Anzeige, die ich kurz davor war zu erstatten, an die Gewissheit, dass man mich endlich davon abgebracht hätte, weiterzusuchen, wenn ich alles erzählt hätte.
    Ein Luxus, den ich mir nicht leisten kann.
    Die Wahrheit ist eine Obsession, die dein Leben besetzt. Der einzige verbleibende Fluchtweg, um die Vergangenheit loszuwerden, ist, den Erinnerungen gerecht zu werden und sie nicht zu verleugnen.
    »Woran denkst du?«
    Ich öffne die Augen und sehe meinen Vater an.
    »Lass uns noch einen schreiben«, sage ich und bin von mir selbst überrascht.
    »Wir haben einen Scheißdreck.«
    Ich stehe auf, öffne den Kühlschrank und stelle den Orangensaft weg.
    »Wir haben die Sadost. Arianna. Michela. Die Bank mit Rossinis Konten. Schreiben wir darüber.« Ich setze mich. »Wir geben zu verstehen, dass wir auch da sind, dass wir begriffen haben.«
    Adriano mustert mich eindringlich. Meine Worte scheinen etwas in Gang gesetzt zu haben. Er kneift die Augen zusammen, als verstehe er nicht oder als wolle er nicht verstehen.
    »Du bist bedroht worden.«
    Das ist keine Frage, und wieder einmal bleibe ich eine Antwort schuldig.
    »Himmel noch eins«, raunt er und seufzt. »Wieso hast du mir das nicht gesagt?«
    Ich versuche zu lächeln.
    »Lass uns diesen Artikel schreiben, Papa.«
    Seine Reaktion lässt lange auf sich warten. Dann trifft er eine Entscheidung, doch statt ja zu sagen, dreht er den Rollstuhl einfach Richtung Arbeitszimmer.
    Ich folge ihm und warte, bis er bereit ist. Zum zweiten Mal wiederholt er die Geschichte, die ihm Andrea erzählt hat. Als ich an der Reihe bin, erzähle ich von Michela und Arianna. Ich spreche Solaras Namen – er ist das einzige Rätsel, das ich nicht zu lösen vermag – mit der gleichen gequälten Heiserkeit aus, die ich im Gerichtssaal gehört habe. Ich schildere den Tag von Ariannas Verschwinden und all das, was wir über die Firma, für die sie arbeitete, herausgefunden haben.
    Zwei Stunden später ist der Artikel fertig. Weder von Rossini noch von Cèrcasi ist die Rede. Nur vom Tod einer Frau und von der Entführung einer anderen.
    »Wann ist das passiert?«
    Die Frage meines Vaters durchbricht die Stille. Er muss mir nicht erklären, was er meint.
    »Vor ein paar Tagen. Aber ich will nicht darüber sprechen. Es bringt nichts.«
    Er will etwas erwidern, doch ich greife über den Tisch nach seiner Hand.
    »Ich bitte dich«, flüstere ich. »Ich bitte dich.«
    Reglos sitzen wir da, nur meine Finger streichen unmerklich über seinen Handrücken. Unsere Blicke halten einander fest, als wollten sie die Vergangenheit vertreiben und die Gegenwartbannen. Schließlich zieht er seine Hand mit einem tiefen Seufzer zurück und kommt um den Schreibtisch herum.
    »Ich habe heute jemanden getroffen.«
    »Wen?«
    »Einen, der etwas weiß. Komm morgen zum Abendessen, dann reden wir darüber. Okay?«
    Ich nicke.
    »Du bist müde. Geh nach Hause.«
    Ich stehe auf und fahre ihm mit der Hand durchs Haar.
    »Brauchst du was?«
    Keine Ahnung, weshalb ich ihn das frage.
    Statt wütend zu werden, schüttelt er nur leicht den Kopf und lächelt.
    Ich verabschiede mich und verlasse die Wohnung, ohne mich noch einmal umzudrehen. Ich höre, wie die Tür sich hinter mir schließt.
    Draußen bleibe ich im Regen auf dem Gehweg stehen und sehe zu seinen Fenstern hinauf. Ich warte, bis er das Licht löscht, und gehe zum Auto. Nach wenigen Schritten hört es auf zu regnen.
     
    Der letzte Tag meines vorigen Lebens.
    Als ich angefangen habe, diese Geschichte aufzuschreiben, habe ich mich gefragt, wie ich mich fühlen würde, wenn ich an diesen Punkt käme. Ob ich Angst haben würde, ob es wehtäte, ob ich in der Lage sein würde, jenen Tag noch einmal zu durchleben, ohne Nebenwirkungen oder bleibende Schäden. Ob ich in der Lage wäre, zu schildern, was passierte.
    Und selbst jetzt, während die Finger über die Tasten gleiten, habe ich keine Antwort parat.
    Würde ich an Schicksal glauben, könnte ich meinen, der Schnee, der seit heute Morgen vom Himmel fällt, hätte eine Bedeutung. Doch so ist es nicht. Es ist Winter, das ist alles. Ich habe in letzter Zeit mehrmals gesehen, wie er in WindeseileStraßen, Autos und Bäume unter sich begräbt. Wie er nachlässt und dann um so vehementer wieder einsetzt, sämtliche Geräusche und menschliche Spuren verschluckt.
    Es gibt kein Schicksal, und auch keine göttliche oder übernatürliche Fügung. Dinge passieren. Zufälle, soweit sie nichts mit menschlichem

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