Bleiernes Schweigen
Frankreich. Dann hat er sich in der Karibik niedergelassen. Er sitzt in verschiedenen Verwaltungsräten, aber in Wirklichkeit handelt er mit Fonds. Oder besser gesagt, er versteckt Geld. Das ist sein Spezialgebiet. Er hat ihm das Netz geknüpft.«
Er setzt sich auf dem Sofa zurecht und versucht, seine Gedanken zu ordnen.
»Mit Rossini wollte ich nichts zu tun haben, Adriano. Und Francesco sollte das wissen. Ich habe das ganze Material kopiert, bin zu Cèrcasi gegangen und habe ihm alles erzählt. Jede Kleinigkeit. Dann wurde mir klar, dass ich die größte Dummheit meines Lebens begangen hatte.«
Er sieht meinem Vater direkt in die Augen. Der Schmerz legt sich als feuchter Schleier über seinen Blick. Er verscheucht ihn mit einer Handbewegung.
»Nicht einmal da hat er etwas unternommen.«
»Nein, Adriano. Ich glaube, irgendwas hat er unternommen.«
Er senkt den Blick und ringt mit der Anstrengung, die ihn diese Schilderung kostet. Er flüstert fast.
»Ich habe es sofort gemerkt, kaum hatte ich das Thema angesprochen. Eine Sekunde nachdem mir das Wort Cosa Nostra herausgerutscht war. Er ist sofort starr geworden. Ich dachte, vor Wut, vor Ekel. Und es war auch so, da bin ich mir sicher! Nur das es nicht die Wut war, für die ich sie hielt … Es war …«
»Wut auf sich selbst. Er war auf sich selbst wütend.«
Grossi nickt.
»Ich habe ihm das Material zum Holländer dagelassen.Eine Kopie all dessen, was ich hatte. Zum Abschied haben wir uns umarmt. Dann bin ich nach Hause gefahren und hab gewartet.«
Er holt tief Luft. Zweimal. Dreimal.
»Zum Teufel«, zischt er. Abermals füllt er sein Glas. »Unmittelbar vor Weihnachten erscheint im Innenteil des
Corriere delle Sera
ein Artikel. Darin geht es um einen Pädophilie-Fall. Ein Junge beschuldigt meinen Lebensgefährten, ihn belästigt zu haben. Ich machte zwei Telefonate und stelle fest, dass ein Anwalt nötig ist. Die Uni suspendiert ihn. Wir brauchen fast ein Jahr, um aus der Sache rauszukommen. Der Junge zieht seine Anschuldigungen zurück. Offenbar ein Racheakt. Richard steckt die Sache nicht gut weg und hört auf zu unterrichten. Ein heftiger Schlag, Adriano. Im wahrsten Sinne des Wortes. Nicht heftig genug, um bleibende Schäden zu hinterlassen, aber trotzdem.« Er leert sein Glas in einem Schluck. »Mit diesem Artikel habe ich begriffen, dass das Warten ein Ende hatte. Ich hab gewartet, bis Richard im Bett war, dann habe ich mir einen angesoffen und alles in den Kamin geworfen.«
Mein Vater denkt an Grossis Lebensgefährten. Das letzte Mal, als er ihn gesehen hat, saß er in genau diesem Sessel, in dem Grossi jetzt sitzt, die Brille auf der Nasenspitze und eine Abhandlung über die Reformation in den Händen.
»Richard fehlt mir, Adriano.«
»Mir auch. Ich weiß, das klingt heuchlerisch, aber er war ein guter Mensch.«
Cesare Grossi sieht weg. Mein Vater übernimmt das Wort.
»Wieso hast du mir das nie erzählt?«
»Weil es für alles den richtigen Moment gibt.«
Grossi steht auf, verlässt das Zimmer und kommt mit einer Zeitung in der Hand zurück. Sie ist vom Tag zuvor, die Nachricht ist eine fast unsichtbare Randnotiz im Innenteil. Er zeigt sie meinem Vater.
Clarence Vandermeer ist von seiner Haushälterin tot aufgefunden worden.
Jemand ist in sein Amsterdamer Haus eingedrungen, hat ihn in seinem Arbeitszimmer gefesselt, den Safe ausgeräumt und ihm zwei Kugeln in den Kopf gejagt.
Mein Vater lässt die Zeitung sinken.
»Wieso hat er es nicht selbst getan?«
»Wovon zum Henker redest du, Adriano?«
»Von Rossini. Wieso hat er Cèrcasi benutzt? Wieso hat er’s nicht selbst angepackt?«
Grossi breitet die Arme aus.
»Glaubst du, dass hätten die zugelassen? Verdammt, Adriano, er ist öffentlicher Konzessionär. Noch gibt es in Italien Gesetze, selbst für Leute wie ihn. Man kann nicht in die Politik gehen, wenn man Geschäfte mit dem Staat macht. Man ist nicht wählbar. Die Leute waren außer sich, erinnerst du dich? Glaubst du, die hätten das durchgehen lassen?«
Er hält inne. Die nächsten Worte sind nur ein Hauch.
Mein Vater und das Zimmer existieren für ihn nicht mehr.
»Aber wieso Francesco?«, flüstert er. »Was …«
Er kann den Satz nicht beenden. Er schüttelt den Kopf, das Glas in den Händen, den Blick ins Nichts gerichtet.
»Er hätte es ’91 tun können.«
Adrianos Worte reißen ihn aus einem tiefen Traum.
»Entschuldige?«
»Wieso hat er es nicht 1991 getan? Wieso hat er zwei Jahre gewartet?«
Grassi fährt
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