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Bleiernes Schweigen

Bleiernes Schweigen

Titel: Bleiernes Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Fogli
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Verhalten zu tun haben, existieren.
    Am letzten Tag meines vorigen Lebens schneite es. Und davor schien die Sonne. Ein gleißendes Licht, das alles überstrahlte und Hoffnung machte.
    Von jenem Tag erinnere ich vor allem die Nacht. Jeden Moment, jedes winzige Detail. Den Krankenwagen, den menschenleeren Korridor, das Gefühl, dass alles für immer verloren sei. Und davor das Grauen, das kurze, endlose Warten auf das Läuten eines Telefons. Die Hände, die durch Schubfächer und Tischtücher wühlen, Papiere durchstöbern, einen Computer fleddern.
    Und dann die Tage danach.
    Die Stimme einer Frau. Eine Frau, die gleichzeitig weint und lacht. Ein Gesicht, das ich nicht erkennen kann und mir vorzustellen versuche. Ein Duft, der das Zimmer erfüllt und verschwindet.
    Und wieder Worte.
    Aus Papier, glatte, druckfrische Seiten mit fernen Erinnerungen, vergessenen Geständnissen, nächtlichen Alpträumen, von denen niemand weiß und jemals wissen wird. Ein aus allzu großer Nähe betrachtetes Bild, auf dem man die Pinselstriche erkennt, aber nicht weiß, was es darstellt.
    Und dann am Ende das Nichts.
    Nicht die Stille. Die Stille ist ein ohrenbetäubendes Geräusch, das bis in den letzten Winkel dringt und einen nicht denken lässt. Die Stille erdrückt, vernichtet, zerstört. Das Nichts, dem ich mich seit damals stellen muss, ist ein Gefährte, der deine Hand hält, dein Leben lebt, so tut, als würde er es verstehen und könnte die Lösung sein.
    Es hat mich lange begleitet. Es loszuwerden war zäh undschmerzhaft. Dass ich es geschafft habe, wurde mir erst mit den ersten Worten dieser Geschichte bewusst.
    Um seine eigene Geschichte zu erzählen, muss man allein sein.
    Um die Bedeutung eines Abschieds zu begreifen, muss man mit ganzem Herzen spüren, dass ein Teil von einem für immer gegangen ist. Und sich, vielleicht, der eigenen Mitschuld gewiss sein.
     
    Das Zimmer ist dunkel.
    Die Neonröhre ist durchgebrannt, die Lampen an der Wand sind alt und staubig.
    Es herrscht Stille und uralte Feuchtigkeit.
    Der Geruch zahlloser Körper, die in diesen Mauern gelegen haben, die Erinnerungen, die Entschuldigungen, die Offenbarungen und kolossalen Lügen. Leben, die durch die Worte derer sickern, die sie gelebt haben, so erzählt, wie sie waren oder wie sie hätten sein sollen.
    Daniele meint sie zu hören, sie kleben am Zement, am Metall der Stühle und der gepanzerten Tür.
    Verwesende Worte, schal und erstickend.
    Der Richter steht auf.
    In der gegenüberliegenden Wand ist ein Fenster. Draußen ein gelber, absurder Morgen. Regengüsse und plötzlicher Sonnenschein. Eine ferne Welt, die nicht bis zu diesem Ort vordringt. Dieser Ort gehört niedergebrannt, denkt er.
    Und die Tür öffnet sich.
    Pietro Vitale scheint überrascht, ihn zu sehen. Er trägt einen langen Bart und Handschellen, doch er wirkt nicht wie ein Gefangener, sondern wie jemand, der überall und jedem Befehle erteilen kann. Er sieht ihm in die Augen, mit geraden Schultern und erhobenem Kopf.
    »Diesmal haben wir die Plätze getauscht«, sagt er. Daniele erinnert sich an ihr letztes Treffen im Krankenhaus. Der Cosa-Nostra-Mann, der in den Regen schaut, und er auf derSchwelle, unschlüssig, ob er eintreten oder gehen soll. Ohne die Möglichkeit, eine Fehlentscheidung wiedergutzumachen.
    Er öffnet seine Tasche, holt das Notizbuch hervor und setzt sich.
    Vitale bleibt zwischen der Tür und dem Tisch stehen.
    »Ich habe nichts zu sagen, Dottore.«
    »Setzen Sie sich.«
    Der Gefängnispolizist schiebt ihn energisch nach vorn. Vitale gehorcht.
    »Nehmen Sie ihm die Handschellen ab und gehen Sie, bitte.«
    »Dottore, normalerweise …«
    »Habe ich mich nicht klar ausgedrückt?«
    Der Polizist gehorcht. Vitale massiert sich die Handgelenke und sieht dem Beamten nach. Als sie allein sind, nickt er Daniele dankend zu.
    »Ich habe nichts zu sagen«, wiederholt er.
    Mit einer jähen, entschiedenen Geste klappt Daniele das Notizbuch zu. Er steht auf, geht um den Tisch herum und setzt sich direkt vor dem Cosa-Nostra-Mann auf die Tischkante.
    »Dann will ich Ihnen mal was sagen. Die Sadost gehört einem ganz, ganz hohen Tier. Einem, der nicht selbst in Erscheinung tritt. Ich frage mich, wie Sie den kennen wollen.«
    Vitale bewegt unmerklich den Kopf. Er mustert Daniele von oben bis unten und scheint kaum zu atmen.
    Der Richter verschränkt die Arme vor der Brust.
    »Wissen Sie, was ich glaube, Vitale? Dass Sie einen Scheißdreck wissen.«
    Ein Lächeln huscht über Vitales

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