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Bleiernes Schweigen

Bleiernes Schweigen

Titel: Bleiernes Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Fogli
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sich mit den Fingern durchs Haar.
    »Das habe ich mich oft gefragt.« Er stellt das Glas ab. »Die Voraussetzungen stimmten nicht. Das ist alles. Es war nicht der richtige Zeitpunkt. Vielleicht hatte er noch nicht den Richtigen gefunden. Und das System war zu stark, zu verwurzelt. Um es niederzureißen musste man abwarten, bis es Risse bekam.«
    Mein Vater nickt.
    Er denkt an einen Sommernachmittag zurück.
    An einen heißen, fernen Sommer. An den Geruch nachStaub und glühendem Metall. An die Stille und das Heulen der Sirenen. An Elenas Augen. An eine Frage, die sie immer und immer wieder stellte.
    Woher? Woher?
    Er denkt an die Leichentücher am Boden. An die Augen, die versuchten, überall zu sein. An den Regen, der gegen das Fenster prasselt, während Giuseppe eine Geschichte erzählt, die vollkommen irrwitzig klingt.
    An eine sonnenüberflutete Dachterrasse und an Zigarettenkippen.
    An die Trümmer von Florenz und Rom. An die verkohlten Bäume in der Via Palestro.
    An die haarfeine Linie eines Risses auf einer weißen Mauer. Man weiß nicht, wo er anfängt oder aufhört, man weiß nicht, warum die Mauer ganz plötzlich zu Staub zerfällt.
    Er hebt den Kopf und sucht Grossis Blick.
    »Es brauchte einen Gnadenstoß«, sagt er. »Es sollte wie das Ende aussehen. Dabei war es der Anfang.«
     
    Nach dem zweiten Weltkrieg heiratet Grazia Lipari Marcello Donati. Sie ist Sizilianerin, er stammt aus Venedig. Sie ziehen nach Sciacca und bekommen einen Sohn, Filippo. Marcello ist beruflich viel unterwegs, mehr weiß man nicht. Als Filippo zwölf ist, stirbt er zusammen mit der Mutter durch drei Pistolenschüsse. Sie werden auf dem Küchenboden gefunden. Niemand hat etwas gesehen. Die Mörder werden nie gefasst.
    Die Geschichte, die ich mir in den Archiven der Lokalzeitungen zusammenklaube, entspricht genau der, die ich von Binaghi gehört habe. Ich finde sogar ein Foto der Frau mit ihrem Sohn. Schwarzweiß lächelnde Gesichter Anfang der Sechziger. Der Junge hat ein T-Shirt an und etwas, das aussieht wie ein Muttermal, auf dem linken Unterarm. Das Foto ist zu unscharf, um mehr zu erkennen.
    Grazia Lipari und Grazia Dinardo sind jedenfalls am selbenTag geboren. Nach dem, was sich aus den Papieren schließen lässt, unterscheiden sie sich durch einen Zentimeter Größe und ein Kilo Gewicht. Und sie sehen sich erschreckend ähnlich.
    Filippo Donatis Geburtsdatum hingegen stimmt genau mit dem Francesco Cèrcasis überein.
    Er ist nicht der, der er zu sein behauptet, denke ich.
    Und Zufälle gibt es nicht.
    Als ich die Geschichte meinem Vater erzähle, ist es weit nach Mitternacht und mein Kopf platzt fast. Ich bin vor zwei Stunden gelandet, habe nur ein Brötchen mit Frischhaltefolienaroma gegessen und versuche den metallischen Geschmack im Mund mit einigen Gläsern Orangensaft herunterzuspülen.
    Adriano knabbert an einem Stück Schokolade herum und hört mir zu. Er kaut bedächtig und fährt sich sorgfältig mit der Zunge über die Lippen. Dann studiert er die Produktangaben, die rot auf die schwarze Verpackung gedruckt sind. Alles, um der Wirklichkeit nicht ins Auge zu sehen.
    Er wartet, bis die Stille sich über meine Worte gelegt hat. Dann trinkt er ein Glas von meinem Orangensaft und wischt sich mit dem Handrücken über den Mund.
    »Grazia Dinardo hat Alzheimer.«
    Er sagt das, ohne mich anzusehen, als hätte er ein schlechtes Gewissen.
    »Sie lebt in einem Haus in der Nähe von Turin, zusammen mit ihrem Pflegepersonal. Soweit ich weiß, erkennt sie niemanden mehr.«
    Ich schüttele den Kopf.
    »Und jetzt?«
    Mein Vater starrt einen Punkt an der Wand an, zwischen der Uhr und dem Küchenbord.
    »Die ersten Symptome sind vor fünf Jahren aufgetreten. Seitdem ist das ganze Ding in die Hände des Geschäftsführers übergegangen.« Er sieht mich an und nennt einen Namen. »Weißt du, wer das ist?«
    Ich schüttele den Kopf.
    »Erinnerst du dich an die Danae? Er war im Aufsichtsrat. Und vor der Danae bei der Nazionale. Vor rund zehn Jahren hat er für Rossini den Kauf einer Supermarktkette im Veneto betreut.«
    Ich lehne mich zurück.
    Er redet weiter.
    Von Andrea, von der Sadost, von einer Schweizer Bank, von Rossinis Konten, von Geld, das vor dem Wahlkampf 1994 verschoben wurde. Geld der Perseo, das bei Cèrcasi landet.
    Ganz leise, ohne dass jemand etwas merkt.
    Ich schließe die Augen.
    Ich denke an die Patronen, die ich in den Müll geworfen habe, an den Beschluss, niemandem etwas zu sagen. Nicht einmal Daniele oder

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