Bleiernes Schweigen
genügt. Und eine Lüge.
»Der Opa ist tot«, sage ich. »Ich glaube, er hatte einen Herzinfarkt.«
Mehr gibt es nicht zu sagen, wir sind beide keine großen Redner. Sie nimmt den ersten Flug, lässt mich wissen, wann sie ankommt, ruft zurück.
Ich lege das Telefon weg.
Reglos stehe ich da.
Lese die Karte noch einmal.
Mein Vater hatte keinen Herzinfarkt.
Das, was ich in den Fingern halte, ist der einzige Beweis, den ich brauche. Wer auch immer hiergewesen ist, hat eine unmissverständliche Nachricht hinterlassen: Die amerikanische Anschrift meiner Tochter.
Ich bin kein Monster.
Ich bin kein Monster?
Ich habe das Richtige getan.
Wirklich?
Seit drei Monaten verlasse ich das Haus nicht mehr. Ich wünschte, ich wüsste nicht, was passiert. Ich wünschte, sie würden mich in Ruhe lassen. Ich will niemanden sehen, nicht einmal M.
Doch er kommt trotzdem. Er meint, ich tue das einzig Mögliche. Er meint, meine Position habe mir keine andere Wahl gelassen. Er meint, jeder Kampf fordere seine Opfer und es sei nicht meine Schuld, wenn es passiert.
Passiert ist.
Er meint, mir kann nichts passieren.
Es ist das einzige Mal, dass ich ihm glaube. Mir kann nichts passieren. Zum ersten Mal, seitdem alles angefangen hat, habe ich begriffen, was mein Leben gewesen ist. Ich habe die Macht begriffen, die ich hatte, die sie mir gegeben haben, die ich mir nahm. Und ihre Folgen.
Zum ersten Mal habe ich in den Spiegel sehen und der Furcht widerstehen können. Sie wird niemals verschwinden, ich weiß. Doch ich werde nicht zulassen, dass sie mich erstickt.
Hast du gesehen, was passiert ist?, hat M. mich gefragt. Dann hat er mich angesehen, und in seinem Blick lag dieselbe Qual, die auch ich empfand. Es war nicht meine Schuld. Sie hatten es nicht für mich getan. Nicht nur für mich.
Ich habe es ihm gesagt. Ich habe ihn gefragt. Ich wollte eine Antwort. Er hat mir keine gegeben, doch ich bin sicher, dass er sie kennt.
Als ich von der Bombe hörte, dachte ich, ich müsste sterben. Meine Lungen würden keine Luft atmen, mein Herz kein Blut mehr durch meinen Körper pumpen. Ich würde für immer dasitzen, wie eine Statue, und so würde man mich finden. Reg- und wehrlos.
Aber es ist nicht passiert. Ein winzigkleiner Funken hat genügt. Ein blasses Flämmchen. Und ich habe die Folgen dessen, was geschehen ist, überblickt.
Sofort habe ich diesen Gedanken, dieses kranke, finstere Glücksgefühl, das plötzlich in meinem Leben aufflammte, bereut. Zur Strafe habe ich mich geschlagen. Heftige Schläge auf
die Brust, aufs Bein. Ich habe auf die Mauer eingeprügelt, bis meine Fingerknöchel bluteten.
Als ich fertig war, war ich völlig außer Atem und erfüllt von der Gewissheit, dass es nicht noch mal passieren würde.
Und so war es auch. Und ist es auch jetzt.
M. meint, sie würden mir helfen, wie immer. Er wird mir helfen, wie immer. Wir hätten viele Geschäfte zusammen gemacht, und alle waren gut. Unsere Idee sei die genialste gewesen, die es überhaupt gibt. Und genau deshalb wird sie sie alle niederbügeln.
Er hat recht. Das weiß ich.
Und ich bin sicher, das Richtige zu tun.
Es gibt keine wirkliche Beisetzung. Mein Vater und Gott hatten nichts miteinander am Hut. Die Unfähigkeit, zu glauben, liegt in der Familie.
Nur der Aufbahrungsraum im Krankenhaus, das Defilee falscher und echter Freunde, Neugieriger und Kondolierender, denen Adrianos Artikel die Augen geöffnet haben.
»Machen Sie weiter«, sagt eine alte Frau und ihre Stimme und ihre Hände zittern leicht. »Sie wissen, was ich meine, junger Mann.«
Aus ihrer Nylontasche lugt eine Zeitung hervor. Der Artikel, den ich Adriano bringen wollte, ist auf der Titelseite. Ich kann ein Stück der Überschrift entziffern. Diesmal haben sie die richtige genommen.
Ist er nicht der, der er zu sein vorgibt?
Ich drücke ihr einen Kuss auf die Wange, und sie streicht mir übers Gesicht. Ich sehe ihr nach, mühsam humpelt sie durch die verschneite Allee davon, und die Flocken fallen, als hätten sie keine Eile, irgendwo liegen zu bleiben.
In einer weißen Welt nehme ich von meinem Vater Abschied.
Drei Tage sind seit seinem Tod vergangen, und noch immer habe ich nichts begriffen. Der Tod eines Elternteils oder einer Frau hinterlässt nur unstillbare Trauer und einen dumpf pochenden Schmerz, nicht das getan, gesagt oder empfundenzu haben, was man so einfach hätte tun, sagen oder empfinden können.
Ich sehe Giulia an.
Sie hat sich nicht in Schwarz gekleidet. Sie
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