Bleiernes Schweigen
beschlossen, mit der Justiz zusammenzuarbeiten. Und wie es der Zufall will, hat er ausgerechnet bei der Auftragsvergabe angefangen, bei den Verbindungen zwischen Mafia, Freimaurerei und Politik. Einer der ersten Namen, die gefallen sind, ist Semprini.«
Adriano atmet tief durch.
»Interessante Geschichte.«
Clara nickt und fängt wieder an zu rauchen. Elena geht zum Du über.
»Du hast gesagt, es hat Ermittlungen gegeben.«
Clara nimmt einen langen Zug.
»Sagen wir mal, dem obersten Staatsanwalt schmeckt das nicht.«
»Es schmeckt ihm nicht, oder er glaubt nicht daran?«
Clara sieht meiner Frau direkt in die Augen.
»Das macht keinen Unterschied.«
»Lass mich mal ziehen.«
Clara reicht Elena die Zigarette, wartet, nimmt sie zurück.
»Wieso erzählst du uns das alles?«
Sie lächelt.
»Hast du’s nicht begriffen? Hast du’s nicht bemerkt? Hier bricht alles zusammen. Und wenn ich sage alles, meine ich das gesamte Gebäude, bis zu den Grundmauern. Es gibt ein Machtgefüge, das bestens funktioniert hat, sowohl in Italien als auch in Sizilien. Auf dem Festland hat es so gut funktioniert, weil die Regeln klar und seit Jahrhunderten festgeschrieben waren, und zwar hier. Cosa Nostra hat dem Staat stets in die Augen gesehen. Doch dann hat einer die Regeln nicht eingehalten. Und das Spiel ist nicht mehr aufgegangen. Tangentopoli ist nicht in Mailand. Tangentopoli ist hier. Hier. Hier.«
Sie setzt sich zurecht. Schließt die Augen. Adriano und meine Frau sehen sich schweigend an. Clara hat recht, das wissen sie. Es ist allzu offensichtlich.
Elena klappt den Block zu. Das war’s, es braucht keine Erklärungen mehr. Doch da ist noch eine Frage. Die einfachste, banalste.
»Wer bist du?«
Die Frau sieht Elena direkt in die Augen. Sie sieht sie an, als würde sie sie seit einer Ewigkeit kennen, als hätte meine Frau sie vergessen und diese Frage klänge nach Verrat. Sie öffnet die Lippen, will etwas sagen.
Der Knall erstickt den Satz, lässt die Erde beben, die Fensterscheiben klirren und die Alarmanlagen der parkenden Autos losheulen wie verängstigte Neugeborene.
Clara bewegt sich rasch, noch ehe Adriano und Elena begreifen, was los ist, noch ehe meinem Vater die Bilder in den Sinn kommen, die er tausendmal im Fernsehen gesehen hat, noch ehe auf der Straße alles wieder zur Normalität zurückkehrt. Sie startet den Wagen, legt den Gang ein.
»Nicht heute, verdammt«, sagt sie. Und es klingt wie dasZischen einer Schlange, die ihr Opfer erschrecken will. »Nicht heute«, sagt sie noch einmal, während mein Vater sie etwas fragt, das sie nicht hört, und Elena sich aus dem Fenster beugt, um etwas zu sehen und mitzukriegen.
Der Rauch hinter den Häusern. Der Rauch, fern und doch nah. Der Rauch und die Leute, die auf dem Gehweg stehen und schauen, woher er kommt.
Der Rauch, der sich nähert, während Clara aufs Gas tritt, vom Parkplatz fährt und über die Kreuzung rast. Sie weiß genau, wo sie hin muss.
Clara hatte recht.
Am 19. Juli 1992 war ich in Mailand und wartete auf ein Interview. Ich hatte beschlossen, nicht bei derselben Zeitung zu arbeiten wie mein Vater und meine Frau, und fühlte mich wie der unbescholtenste Mensch der Welt. In Wirklichkeit hatte ich es nur getan, um mir die ständigen Kabbeleien mit Adriano zu ersparen, dem ich als Untergebener, als Lehrling und nicht als Sohn gegenübergestanden hätte.
In jenen Tagen war mein Vater das Inbild des italienischen Journalismus. Oder zumindest ein hochangesehener Teil davon. Zu allem Überfluss besaß meine Frau sehr viel mehr Talent als ich, und ich wollte Adriano nicht vor die unangenehme Wahl zwischen der vielversprechenden Schwiegertochter und dem eigenen Sohn stellen, dem er eine Chance geben zu müssen glaubte.
Schließlich hatten wir eine Lösung gefunden. Ich schrieb über Kino und Bücher, doch meine eigentliche Leidenschaft galt der Justiz, wo ich mithilfe meines Nachnamens auf einen grünen Zweig zu kommen versuchte. Adriano ist Justizreporter. Ich benutze das Präsens und das ist nicht falsch.
An jenem Julisonntag wäre ich auch dann nicht in Palermo gewesen, wenn es das Interview nicht gegeben hätte. Der Schwerpunkt lag auf Mailand, dort, so glaubten wir, würde der Weltuntergang seinen Anfang nehmen.
Heute muss ich lächeln bei dem Gedanken, dass diese Überzeugung stimmte, wenn auch anders, als wir glaubten.
Ich konnte das Interview nicht machen, weder an jenem Sonntag noch an den folgenden Tagen. Als die Nachricht von
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