Bleiernes Schweigen
auch die zweite Hälfte des Satzes habe ich nicht herauszufinden versucht. Weder an jenem Abend noch ein paar Tage darauf, als sie nach Hause gekommen ist. Und auch nicht später. Über jenen Nachmittag in Palermo wurde nicht gesprochen.
Alles, was ich bis zu jenem Tag, an dem Michela mich angerufen hat, wusste, habe ich aus den Zeitungen erfahren, aus einem Halbsatz, den sie am Telefon, in der Küche oder im Bett vor dem Einschlafen hat fallenlassen. Aus einem Notizzettel,der auf dem Boden, dem Tisch, der Waschmaschine, dem Nachttisch herumlag. Details, aus denen sich unmöglich ein komplettes Bild zusammensetzen ließ. Bruchstücke, die nur Wut, Neugier und Ohnmacht verrieten.
Paolo Borsellinos Tod war ein schwarzes Loch, das sich plötzlich in unserem Alltag auftat. Eine Nachrichtenmeldung, eine Schlagzeile, ein scheinbar bedeutungsloses Detail reichte, um Elena in eine andere Welt voller Wut, Groll, Trauer und Einsamkeit zu stürzen. Ein Paralleluniversum, in dem ich nicht zugelassen war und das ich nur von weitem betrachten durfte, ohne es je verstehen zu können.
Zum Glück dauerte es jedes Mal nur kurz, doch wenn es endete, kehrte sie mit einem veränderten, von Mal zu Mal traurigeren, zerbrechlicheren und verzweifelteren Lächeln zurück. Eines Abends, lange Zeit danach, habe ich versucht, das Thema anzusprechen.
»Ich bin nie ganz zurückgekommen«, war ihre Antwort. Dann hat sie mich lang und voller Zärtlichkeit geküsst und meine Hände gestreichelt.
So ist sie eingeschlafen, und ich habe nie mehr den Mut gehabt, weiter zu fragen.
Adriano löscht das Licht und lässt sich aufs Bett fallen. Er schließt die Augen, zwingt sich, sie geschlossen zu halten, in der Hoffnung, dass die Müdigkeit sich endlich seiner annimmt. Doch dem ist nicht so. Es passiert nicht, nicht diese Nacht, in der keine Zeit zu schlafen ist. Die Gedanken, die Angst haben keine Zeit.
Er dreht sich zur Seite. Das Knacken eines Möbels lässt ihn hochfahren. Er verharrt mit angehaltenem Atem. Lauscht in die trügerische Stille des palermischen Hotels, sein Herzschlag pocht in den Schläfen. Der Geruch nach Qualm und verbranntem Blech. Ein Geruch, der nicht da ist und der nie mehr weggehen wird.
Alles ist anders geworden, denkt er. Dort, direkt vor meinenAugen. Alles ist anders geworden und ich habe nichts begriffen. Und wenn ich erzählen sollte, was ich gesehen habe, was geschehen ist, könnte ich es nicht erklären. Ein Journalist berichtet nicht von der Angst, von Gefühlen, von Hoffnung, Freude oder Schmerz.
Ein Journalist berichtet die Fakten. Zumindest die Art Journalist, die er sein möchte und die er dieses Mal nicht gewesen ist. Das Stück, das er der Zeitung gegeben hat, das morgen auf der Titelseite erscheinen wird und das er zusammen mit Elena verfasst hat, enthält keine Fakten.
Er kann nicht erzählen, was der Mann, der ihn nach Palermo geschickt hat, hat durchblicken lassen. Er kann den Halbsatz nicht erläutern, der Clara herausgerutscht ist, ehe sie Gas gegeben und sie zweihundert Meter von der Via d’Amelio entfernt abgesetzt hat. Er kennt keine Worte, mit denen sich beschreiben ließe, was er dort auf der Terrasse gesehen hat. Und später auf dem Parkplatz.
Gefühle sind kein Beweis. Falsche Namen sind kein Indiz. Verdächtige ergeben keine Wahrheit. Also bleibt der Sprengstoff. Der Nachhall von Claras Worten –
Nicht heute, verdammt. Nicht heute
– und die Verstörung, die einem über Schiefer kratzenden Nagel gleicht und die er mit sich herumschleppt, seit er die Zigarettenstummel und die beiden Polizeiwagen gesehen hat.
Er öffnet die Augen, schaltet die Lampe an.
Auf dem Lampenschirm sitzt eine Spinne, nicht größer als ein Fingernagel. Er stützt sich mit dem Ellenbogen auf und sieht sie an.
Da stand ein Auto in der Via d’Amelio.
Ein Klumpen geschmolzenes Metall, aus dem die erstarrten Reste der Antriebswellen, der Kurbelwelle und sonstiger Elemente hervorstaken, die vorher eine andere Form gehabt hatten und nun für immer entstellt und ihrer Funktion entrissen waren. Auch das eine Spinne. Aus totem, farblosem, leblosem Blech. Reglos und grauenvoll.
Wir stehen vor der Entstellung der Welt, denkt er. Und das Erschütternde daran ist, dass es uns ganz normal erscheint.
Er steht auf. Die Dusche ist kühl, doch es hilft nichts. Er verlässt das Zimmer und setzt sich ein Stockwerk tiefer auf die dunkle Hotelterrasse. In den hintersten Winkel, damit ja niemand auf die Idee kommt, sich zu ihm zu
Weitere Kostenlose Bücher