Bleiernes Schweigen
hat die Sonne alles verschluckt. Den Himmel. Das Meer in der Ferne. Palermo, das unter ihnen liegt. Die Verkehrsgeräusche, die Autos, die Stimmen.
»Komm mal her.«
Elena, zwei Meter vor der Kante. Sie hat sich hingehockt und blickt auf den Boden. Ein Dutzend Zigarettenkippen liegen da. In einer Ecke aufgehäuft, recht und schlecht ausgedrückt.Man sieht sofort, dass sie noch nicht lange hier liegen. Elena steckt eine Hand in die Tasche, holt ein Taschentuch hervor und stupst eine an.
»Marlboro«, flüstert sie, aber Adriano hört nicht zu. Er steht am Gesims, den Blick in die Ferne gerichtet, etwas Eisiges lässt seinen Atem flattern.
Via d’Amelio vor den Augen.
Luftlinie sind es weniger als zweihundert Meter, und zwischen seinem Standpunkt und dort, wo die Bombe explodiert ist, gibt es keinerlei Hindernisse.
Hier ist das Woher, will er gerade sagen. Aber der Satz bleibt ihm im Hals stecken.
Eine Stimme. Ganz nah. Vielleicht zu nah, um ihr entgehen zu können.
Elena springt auf. Ein Blick genügt, um zu sehen, dass es nur einen Ausweg gibt.
Der Mann hat kurzes Haar und breite Schultern. Er geht am Rand der Dachterrasse entlang und blickt sich nicht um. Im Schutz einer der quadratischen Treppenhälse versuchen Elena und Adriano ihn im Auge zu behalten.
Sie pressen sich gegen die Mauer, die Tür, die zur Treppe führt, ist verriegelt, das Herz rast ihnen in der Brust. Die Stille, durch die noch immer die Sirenen heulen.
Der Mann mit dem kurzen Haar hat keine Eile. Jetzt steht er mitten auf der Terrasse, die Hände in den Jeanstaschen vergraben. Er blickt zum Ort der Explosion hinüber. Dann wendet er sich plötzlich nach rechts. Genau dort, wo Adriano und meine Frau standen, kniet er sich hin. Sofort steht er wieder auf.
Er wirkt erschreckt. Hastig geht er zur Treppe und verschwindet aus ihrem Blickfeld.
Die Tür schlägt. Mein Vater wischt sich die Stirn und macht Elena ein Zeichen.
Eine zweite Gelegenheit wird es nicht geben.
Jetzt sind es vier Männer. Zwei in Uniform, der Mann mit dem kurzen Haar und ein weiterer Typ in Zivil. Auf dem Parkplatz, direkt vor dem Hauseingang. Vor ihnen zwei Autos. Ein Streifenwagen und ein schwarzer Golf.
Von der zweiten Eingangstür aus, hinter der sie stehen, können Elena und Adriano nicht hören, was sie sagen. Doch sie diskutieren, soviel ist sicher. Und es dauert nur ein paar Minuten. Dann steigen die beiden Beamten in den Streifenwagen und fahren davon.
Die Männer in Zivil bleiben noch ein paar Minuten. Argwöhnisch blicken sie dem verschwundenen Wagen nach. Dann nicken sie einander zu, steigen in den Golf und machen sich auf den Weg.
Elena wirft einen Blick auf das Nummernschild. »Polizei«, murmelt sie.
Das Telefon klingelt um zwei Uhr nachts. Ich knipse das Licht an, taste nach dem Hörer und gehe ran.
»Schläfst du?«
Ich setze mich im Bett auf, lehne mich gegen das Kissen und lächle dem leeren Zimmer zu. Es ist die Stimme meiner Frau.
»Ja, aber das macht nichts. Wie geht es dir?«
Elena geht über die Frage hinweg.
»Giulia?«
»Sie ist nebenan und schläft. Angeblich war sie den ganzen Tag lieb.«
»Das Interview?«
Fünf Worte, drei Fragen. Flache Stimme. Ich sehe sie vor mir, das Telefon zwischen Schulter und Ohr geklemmt, der stumme Fernseher, der das Zimmer erhellt.
»Abgesagt. Mal sehen, ob wir’s nachholen können, aber ich bezweifle es.«
Schweigen. Wir sind nicht gut im Telefonieren. Aber einen Versuch starte ich trotzdem noch.
»Adriano?«
»Ein Stockwerk tiefer. Morgen erscheint unser Artikel auf der Titelseite.« Sie kommt mir zuvor. »Keine Komplimente, bitte.«
Ich lüge.
»Wollte ich auch gar nicht machen. Aus purem Neid, vielleicht.«
Sie raucht, ich höre es an ihrem Atem.
»Entschuldige.«
»Komm schon, Elena, wofür denn? Ich hab’s im Fernsehen gesehen.«
»Ja, du hast recht. Du bist noch nicht mal sauer, dass ich rauche.«
»Du bist ja nicht hier und paffst mich zu …«
Sie lächelt. Ich sehe sie vor mir, zerzaust, das Haar, dass sich aus dem Gummi löst, ein T-Shirt von mir als Schlafanzug. Es reicht gerade bis zum Schenkel.
»Da gibt es etwas …«, hebt sie an. Wieder ein Zug von der Zigarette. Schweigend warte ich auf das Ende des Satzes, das niemals kommen wird. Ich gebe auf.
»Wann kommt ihr zurück?«, frage ich.
»Wir warten die Beerdigung ab, und dann sehen wir mal.«
»Okay.«
»Okay.«
»Wir hören uns morgen.«
»Okay.«
Sie legt auf.
Ich habe sie nicht zurückgerufen,
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