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Bleiernes Schweigen

Bleiernes Schweigen

Titel: Bleiernes Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Fogli
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der Bombe eintraf, war ich in der Redaktion, und ich kann mich noch an die Stille erinnern. Sie dauerte nur wenige Sekunden, aber es schien, als hätte die Wirklichkeit eine Grenze überschritten, und wir hätten es erst jetzt bemerkt.
    In dem Moment dachte ich nicht an Elena oder Adriano. Nur an Giulia, die bei einer Freundin meiner Frau war. Es war ein flüchtiger, schmerzlicher Gedanke, der mich beschämte: Ich hoffte, sie wäre noch zu klein, um sich an jenen Todessommer zu erinnern. Heute würde ich, wenn auch weniger beschämt, genauso denken.
     
    »Woher?«
    Die Frage ist banal wie ein Atemzug. Man muss sich nur umblicken. Begreifen. Beobachten. Sehen.
    »Woher?«, wiederholt Adriano. Er bewegt den Kopf, die Augen, den Körper. Er geht, läuft, sucht.
    Woher?
    Ein Metronom. Der stumpfe, monotone Rhythmus des Verkehrs, der eine Brücke passiert.
    Woher?
    Elena hört nichts. Sie kriegt kaum Luft, als hätte sich der Atem in ihrer Brust verschanzt, der Sauerstoff sich an einem sicheren Ort verkrochen. Der Parkplatz ist ein Friedhof aus Blech, Staub, Schutt und Menschen, die wie aufgescheuchte Gespenster oder verstörende Gedanken zwischen den Trümmern herumhuschen.
    Die Erde kocht, glüht, qualmt.
    Ein Körper oder Körperteil oder vielleicht etwas, das weder Körper noch Körperteil ist. An der Hauswand. Oben, ganz oben. Zu weit oben.
    Ein Laken auf dem Boden. Noch eines, weiter vorn. EinMann mit einer Tasche in der Hand geht vorbei, rempelt sie an, sie sehen sich an. Kurz. Ganz kurz. Elena dreht sich um.
    »Woher?«
    Adrianos Stimme. Eine Frage. Die Frage.
    Aufwachen. Du musst aufwachen.
    In einem Gewirr aus Stimmen und Händen stürzt die Welt in die Wirklichkeit. Eine Autosirene, die keiner abstellen kann. Der Schatten, der den Nachmittag erlöschen lässt. Der triefnasse Asphalt, von den farbigen Schläuchen der Feuerwehr überzogen. Bis zum dritten Stock zerstörte Balkons und Mauern. Ein Polizist, der kommt und sie zurückdrängt.
    Die Mauer am Ende der Straße. Die Bäume. Der Himmel.
    Das Mietshaus.
    Via d’Amelio, Palermo, Italien. Die Familie Borsellino wohnt da.
    Elena nickt dem Polizisten zu, setzt sich in Bewegung, geht zum Ende der Straße, überquert sie, überholt eine alte Frau, die sich bei einem astdürren Mädchen unterhakt.
    Sie dreht sich um, auf demselben Gehweg, auf dem offenbar die Bombe explodiert ist. Das Mietshaus ist noch da, riesig, inmitten eines Stücks Himmel, das – da ist sie sich sicher – von sämtlichen Zeitungen und Nachrichtensendungen der Welt fotografiert und gefilmt wird.
    Sie macht Adriano ein Zeichen. Ein kurzes Kopfnicken. Er sieht sie an, folgt ihrer Geste mit den Augen, sieht sie wieder an.
    »Lass uns gehen«, sagt er dann.
    Eilig verlassen sie den Ort, an dem eine Bombe Paolo Borsellino und seine Eskorte getötet hat.
    Während sie an den Bahngleisen entlanglaufen, verschwindet das Mietshaus hinter anderen Häusern. Kurz taucht es noch einmal auf, eingekeilt zwischen einem niedrigen Gebäude, das wie eine Schule aussieht, und einem zugeparkten Parkplatz, der sie von der Straße weg auf einen Feldweg führt, auf dem sie bald umkehren müssen.
    Sie beschleunigen den Schritt, passieren zwei milchweißezehnstöckige Ungetüme und biegen nach links ab. Vor dem Eingang blicken sie sich um.
    Die Fenster sind alle verschlossen. Das Haus sieht neu aus. Unbewohnt.
    Zwei Eingangstüren. Eine steht weit offen. Die Schließfeder ist eingerastet.
    Drinnen ist es fast kühl. Es riecht nach Putzmittel und Farbe. Hinten im Eingangsflur ein noch nicht fahrbereiter Aufzug. Links die Treppe. Zwei Stockwerke, drei, fünf. Verschlossene Türen, keine Namensschilder, kein Laut. Auch im siebten nicht.
    Dann ein Krachen.
    Eine Tür, die zufällt. Zweimal, dreimal.
    Lauschend verharren Elena und Adriano auf halber Treppe.
    Die Tür schlägt heftiger, über ihnen, ganz oben.
    Dann herrscht wieder Stille.
    »Der Wind«, flüstert Elena, und mein Vater geht weiter. Noch zwei Stockwerke, wenn sie sich nicht verzählt haben. Mit schnellen Schritten nimmt er das erste, beim zweiten verlangsamt er.
    Auf den letzten Stufen lehnt er sich über das Geländer.
    Die Tür, die auf die Dachterrasse führt, ist nur angelehnt. Sie schlägt leise gegen den Rahmen. Elena sieht meinen Vater an, einen Fuß auf der obersten Stufe, den Oberkörper wachsam vorgebeugt, die Ohren gespitzt. Nichts ist zu hören außer dem Wind.
    Adriano macht zwei letzte Schritte bis zur Tür und stößt sie auf.
    Draußen

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