Bleiernes Schweigen
hat ihr das Reiseziel genügt. Jetzt braucht sie mehr.
»Du hast mir nicht vertraut.«
Es ist das erste gesprochene Wort, seit Adriano sie vor Stunden von zu Hause abgeholt hat.
Mein Vater legt die Zeitung auf die Knie und sieht sie an. Er weiß, dass sie nicht lockerlassen wird. Wenn sie sich in den Kopf gesetzt hat, die Dinge jetzt klären zu wollen, kann nichts sie davon abbringen.
»Wenn ich dir nicht vertrauen würde, wärst du jetzt nicht hier. Ich komme auch allein zurecht. Das weißt du. Und diesmal musste ich es auf meine Art angehen.«
Meine Frau sagt nichts. Ich sehe sie vor mir, zurückgelehnt, mit verschränkten Armen und zusammengepressten Lippen, den Blick auf Adriano geheftet, die unterdrückte Wut in ihrem Atem. Vielleicht beißt sie sich auf die Unterlippe, das tat sie immer, wenn sie nach den richtigen Worten suchte.
Doch jetzt braucht es keinen Satz, um die Spannung zu lösen und die Kapitulation zu besiegeln. Mein Vater wendet das Blatt, und das ebenso mühelos wie er ihr klargemacht hat, auf welcher Seite des Schreibtisches sie sitzt.
»Nicht hier, Elena. Nicht jetzt.« Er sieht auf die Uhr. »Gedulde dich bis Palermo.«
Sie landen pünktlich in Punta Raisi. Wolkenloser Himmel und kochender Asphalt. Adriano krempelt sich die Ärmel auf und steigt mit resignierter Entschlossenheit die Treppe hinab.
Sie nehmen ein Taxi, der Fahrer versucht, eine Unterhaltung anzufangen, doch niemand hat Lust zu reden. Die Fahrt verläuft schweigend. Überall blitzt das Meer, Villagrazia di Carini und dann Capaci und Isola delle Femmine und plötzlich liegt das Meer hinter einem und Palermo taucht auf, eine Bar unweit des Largo dell’Esedra, Tische im Freien, Autos fahren vorbei, und es muss noch etwas gesagt werden, dies ist der letzte Moment, die letzte Gelegenheit.
»Also?«
Elena trinkt einen Schluck Cola und wartet. Mein Vater beißt in ein Brötchen. Ein winziger Biss, um die Gedanken zu ordnen. Dann erzählt er ihr alles. Als er fertig ist, erscheint es ihm absurd, so wenige Worte gebraucht zu haben, als hätte er die Wirklichkeit in eine Schuhschachtel gepresst. Doch das war die ganze Geschichte, aufgeschrieben, fertig, durchgesehen. Man musste sie nur aus dem Schweigen reißen.
Einen Moment lang sagen beide nichts. Das Geräusch der Autos in der Via della Libertà. Ein Kind, das sich weigert, mit der Mutter mitzugehen. Zwei junge Leute, die sich küssen, ein Mann und eine Frau, die streiten. Ein Alter, der die Straße überqueren will und sich nicht traut, den Gehsteig zuverlassen. Eine Autohupe in der Ferne. Eine zweite, die antwortet.
Und Elenas Stimme, die das Schweigen bricht und die Welt wieder in Bewegung setzt.
»Die haben die Semprini gekauft«, sagt sie.
Nach diesem Satz ist das Einzige, was mein Vater vor sich sieht, das lächelnde Gesicht von Davide Mirri.
Man nennt ihn »der Pirat«. Der Mann ohne Furcht. Der Mann, der es mit dem Staat, dem Schicksal, den eigenen Wurzeln, der Zeit, dem Meer, der Wirtschaft, der Politik aufgenommen hat. Der gewonnen und verloren und wieder gewonnen hat.
Er hat ihn interviewt, an einem Mailänder Nachmittag voller Abgas und Regen. Wenn er an jene zwei Stunden des Jahres 1990 zurückdenkt, ist das Einzige, was ihm dazu einfällt, dass alles Wesentliche bereits passiert war.
»Das war nicht die Abmachung«, sagt die Frau. Doch sie geht nicht. Sie ist zwanzig Minuten zu spät. Adriano hat sie aus dem Nichts neben sich auftauchen sehen, mit diesen Worten auf den Lippen.
Sie ist um die vierzig, kastanienbraunes, schulterlanges Haar, Jeans, weißes Hemd, Turnschuhe, schwarze Ledertasche, Sonnenbrille, die ihre Augen verdeckt. Sie sieht Elena an, die nicht hier sein sollte.
»Es gab keine Abmachung« erwidert mein Vater, und die Frau bleibt ein paar Sekunden stumm. Dann streicht sie sich hektisch eine Strähne aus der Stirn, blickt sich um und sieht auf die Uhr.
»Gehen wir«, sagt sie. Sie überquert die Kreuzung bei der Via Scrofani.
Mein Vater versucht die Spannung mit Höflichkeit zu lösen. »Wir haben uns noch nicht einmal vorgestellt«, sagt er.
Am Zaun des Salesianer-Internats bleibt sie stehen. »Sie sind Adriano, Ihre junge Begleiterin heißt Elena und ist dieFrau Ihres Sohnes. Er sitzt gerade in Mailand an einem wichtigen Interview, aber womöglich wäre er so oder so nicht mitgekommen.« Sie deutet ein Lächeln an. »Was mich betrifft, können Sie mich Clara nennen, aber glauben Sie nicht, dass das mein richtiger Name
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