Bleiernes Schweigen
betrachtet das Kastell.
»Was zum Teufel ist das hier?«
»Eine Berufsschule, du hast doch das Schild gelesen.«
»CERISDI*«, murmelt sie. Sie macht eine Pause, dann wiederholt sie ihre Frage.
»Was willst du hier finden?«
Mein Vater dreht sich nicht um. Er blickt weiter nach unten. Das Meer, Palermo, das weiße Hochhaus, die Terrasse, der Parkplatz in der Via d’Amelio. Wenn ich die Hand ausstrecke, könnte ich ihn berühren, denkt er.
»In einer Schule?«, sagt er. »Nichts. Allenfalls jemanden, der vielleicht etwas gesehen hat.«
»Es war Sonntag.«
»Du glaubst doch nicht etwa, dass die nur am Sonntag auf dieser Terrasse waren? Du glaubst doch nicht etwa, dass die, die hier arbeiten, nie aus dem Fenster gucken? Oder sich nie hierhinstellen und eine Zigarette rauchen?«
Jetzt ist es an meiner Frau, grimmig zu lächeln. Ihr Blick wandert vom Kastell zum Meer und wieder zurück. Riesig, als würde es leben. Reglos, als wäre es tot.
»Heute ist nicht Sonntag. Der Ort hier ist total verwaist.«
Adriano dreht sich um.
»Genau. Und wieso sollte eine Berufsschule verwaist sein?«
Er setzt sich in Bewegung und geht an ihr vorbei.
»Was machst du?«
Er antwortet, ohne stehenzubleiben.
»Es gibt ein Schild und eine Klingel. Ich bin ein wohlerzogener Mensch. Ich frage mal, ob jemand zu Hause ist.«
Unter den Arkaden, die zum Eingang führen, erscheint der Sommermorgen weniger erbarmungslos. Sie haben dreimal geklingelt. Dreimal hat die Klingel das gleiche tonlose, unangenehme Geräusch von sich gegeben. Dreimal hat niemand reagiert. Kein Laut, keine Stimme.
Nur der Wind.
»Was zum Teufel ist das hier?«
Elenas Frage, die gleiche wie eben, bohrt sich wie ein Dorn in die Gedanken meines Vaters. Eine Frage, für die er eine mögliche Antwort hat. Eine allzu offensichtliche Antwort. Eine Antwort, die aus der Vergangenheit kommt, von anderen Messingschildern, die mehrere Monatslöhne eines Arbeiters wert sind. Studienzentren auch diese. Er kann sich nur zu gut daran erinnern. Die Welt hat keine Phantasie.
»Komm, wir gehen«, sagt er.
Und der Satz bleibt ihm im Hals stecken.
Das Erste, was sie hören, ist das Motorenbrummen. Weit weg, fast wie ein Störgeräusch im Rauschen des Windes. Dann sehen sie es.
Ein Auto. Es fährt schnell.
Biegt auf den Parkplatz ein.
Und kommt direkt auf sie zu.
»Suchen Sie jemanden?«
Der Mann steht neben seinem Auto. Helles Hemd, dunkle Brille, die Wagentür steht offen. Ein Lancia. Blau, frisch gewaschen.
»Nein, niemanden.«
Der Mann verschränkt die Arme vor der Brust.
»Seltsam. Normalerweise kommt man hierher, weil man jemanden sucht.«
Elena wartet. Sie fragt sich, ob sich hinter der Sonnenbrille tatsächlich zwei Augen verbergen. Adriano geht auf ihn zu. Der Mann steckt eine Hand in die Tasche.
»Und Sie? Auf wen warten Sie?«
Der Mann blickt sich um. Das Eingangstor, der Parkplatz, die leere Straße.
Elena. Adriano.
Das Kastell.
Er spricht, ohne sich einen Millimeter zu bewegen.
»Wissen Sie, dass das gar keine richtige Burg ist? Sie als Journalist sollten das wissen. Sie brauchen sich nicht zu wundern. Ich habe Ihren Artikel am Montag in der Zeitung gelesen. Und ich würde Sie auch kennen, wenn ich ihn nicht gelesen hätte.«
Er macht eine Pause. Offenbar denkt er über etwas sehr Wichtiges nach. Etwas, das er sofort wieder verwirft.
»Dieses
Castello
ist gar keine echte Burg«, fängt er wieder an. »Es wurde Anfang der dreißiger Jahre fertig gebaut. Sollte ein Hotel werden. War es auch für kurze Zeit. Dann kam der Krieg, da waren die Faschisten drin, danach die Alliierten und am Ende stand es leer. Unbewohnt. Rund vierzig Jahre lang.«
Er sieht Adriano an, Elena, den Parkplatz mit den beiden Autos. Wieder das Kastell. Er lächelt.
»Können Sie sich diesen Ort unbewohnt vorstellen? Verlassen?Schwierig, nicht wahr? Anfang der Achtziger wurde es dann von der Region gekauft und an eine Privatgesellschaft vermietet, die dieses Studienzentrum unterhält. CERISDI. Lernen ist wichtig, nicht wahr?«
Adriano hört nicht zu. Er fängt von vorn an.
»Sie haben mir nicht geantwortet.«
Der Mann scheint nicht zu verstehen.
»Worauf?«
»Sie haben gesagt, man kommt nur hierher, wenn man jemanden sucht. Ich habe Sie gefragt, wen Sie suchen.«
»Jetzt warte ich auf niemanden mehr.« Er holt die Hand aus der Tasche. Macht einen Schritt auf sie zu. Zeigt eine Polizeimarke.
»Giuseppe«, sagt er.
Er drückt meinem Vater und dann Elena die
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