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Bleiernes Schweigen

Bleiernes Schweigen

Titel: Bleiernes Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Fogli
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setzen, ein Gespräch anzufangen, Gesellschaft zu suchen.
    »Hätte ich nicht Angst gehabt, Giulia zu wecken, hätte ich dich angerufen«, wird er mir später sagen, als er mir von jener Nacht erzählt. »Vielleicht hätte ich es nur getan, um deine Stimme zu hören oder über Fußball oder Kino oder Bücher zu reden, als wäre nichts passiert. Vielleicht hätte ich dich gebeten, mir von deinem Tag zu erzählen, in der Hoffnung, mich noch lebendig zu fühlen und mir einzureden, dass alles beim Alten ist. Stattdessen habe ich die ganze Nacht im Dunkeln gesessen. Und nach einer Weile habe ich sogar aufgehört, die Gedanken zu vertreiben.«
    Der Morgen des 20. Juli 1992 findet meinen Vater schlafend, eingehüllt in eine Decke, die ein ebenso schlafloser Mensch ihm übergelegt hat.
    Während Adriano sich die Nacht um die Ohren schlug, wurden die Bosse der Cosa Nostra aus dem Gefängnis von Palermo geholt, in Kampfhubschrauber gesetzt und nach Pianosa geflogen. Eine Insel, eine Festung, um den Kopf vom Rumpf zu trennen. Eine Insel, eine Festung, um die Bestie in Ketten zu legen und zur Aufgabe zu zwingen.
    Dies war das erste Signal, dass sich die, die diese Bombe gebaut und gezündet hatten, offenbar keinen großen Gefallen damit getan hatten.
     
    Mafia raus aus dem Staat.
    Die Beisetzung von Paolo Borsellinos Eskorte ist keine Beisetzung, sie ist eine Revolution.
    Tausende von Carabinieri sind dort, um die Kirche vor dem Ansturm der Menschen zu schützen. Doch sie reichennicht aus. Sie reichen nicht aus, um die Politik vor der Wut, den Schmähungen und Stößen zu schützen.
    Elena und Adriano gehen kurz vor Schluss, beide mit demselben unausgesprochenen Gefühl. Hätte die Familie Borsellino nicht beschlossen, den Staatsanwalt im kleinen Kreis beizusetzen, wäre es in ein paar Tagen noch heftiger geworden.
    Sie steigen ins Auto, ein gemieteter roter Polo, der zu weit weg von der Kathedrale geparkt ist. Mein Vater fährt ohne Hast, unbeirrt von den Hupen, dem Verkehr, der Sonne, dem Meer, das von der Via Francesco Crispi aus noch mehr funkelt als sonst. An einer Ampel kurz vor dem Fährkai blickt er auf und sieht es.
    Es war dort, es war immer dort.
    Als die Ampel auf Grün springt, macht der Wagen einen ungewollten Satz nach vorn und lässt Elena hochfahren. Meine Frau sieht ihn verständnislos an, dann erkennt sie die Straße. Via Montepellegrino, Via dell’Autonomia Siciliana. Er fährt an die Seite, schaltet den Warnblinker ein und steigt aus.
    »Was hast du denn?«
    Es ist das dritte Mal, dass sie ihn das fragt, und erst jetzt bekommt sie eine Antwort. Wäre er früher darauf eingegangen, hätte sie nichts verstanden.
    »Sieh nach vorn«, sagt er.
    Elena schüttelt den Kopf, mein Vater lächelt. Manchmal spielt der Verstand einem seltsame Streiche. Er erinnert sich, wenn er nicht sollte, er verdrängt, wandelt ab. Verknüpft Fakten und Orte, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben. Oder erinnert einen daran, dass einem etwas hätte auffallen müssen.
    Er nimmt den Kopf meiner Frau in beide Hände und dreht ihn leicht nach rechts. »Fällt dir nichts auf?«
    Elenas Blick geht über den Parkplatz mit den Autos zu den beiden weißen Hochhäusern, zur Terrasse mit den Marlboro-Kippen, zum Monte Pellegrino.
    »Es war da«, sagt Adriano. »Man musste nur hinsehen.«
     
    Adriano stoppt den Wagen und lässt den Motor laufen. Auf dem Parkplatz steht kein anderes Auto. Die Kastellburg rund zwanzig Meter weiter links nimmt den ganzen Horizont ein.
    »Was willst du hier finden?«
    Adriano grinst ein kleines, wütendes Grinsen.
    »Komm.«
    Er schaltet den Motor ab, steigt aus und geht auf das Kastell zu. Elena folgt ihm mit einigem Abstand. Sie wirkt ängstlich. Mein Vater hingegen bewegt sich mit der Gelassenheit eines Touristen, der eine Sehenswürdigkeit besucht. Er überquert den lichtüberfluteten Parkplatz, erreicht den Eingang, liest das Schild neben der geschlossenen Tür, geht weiter und bleibt auf der Aussichtsterrasse hoch über der Stadt stehen, die Ellenbogen auf die Brüstung gestützt.
    »Siehst du es?«
    Elena steht neben ihm und antwortet nicht. Unter ihnen liegt ganz Palermo. Die Terrasse mit den Marlboro-Kippen. Und Via d’Amelio, ein dunkler Streifen aus Asphalt und Häusern.
    »Mit bloßem Auge.«
    Adriano versucht einen Scherz zu machen.
    »Weil du jünger bist als ich.«
    Elena geht darüber hinweg. Sie steckt die Hände in die Taschen, dreht sich um, lehnt sich gegen die Brüstung und

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