Bleiernes Schweigen
Ameisenhaufen stechen und gucken, was passiert. Und ich stehe sowieso schon zu lange auf dem Abstellgleis.«
Er streckt die Hand aus, berührt mit dem Finger das Rad seines Rollstuhls. Er scheint etwas sagen zu wollen. Und es hastig wieder zu verwerfen.
»Du fragst mich immer wieder, was ich von dem Unfall noch erinnere«, hebt er an. »Und das Märchen, das ich mir ausgedacht habe, lautet, ich erinnere mich an nichts, ich weiß nichts. Wenn dieser verdammte Rollstuhl nicht wäre, würde ich vielleicht sogar behaupten, ich sei nicht dabei gewesen. Doch in Wahrheit erinnere ich mich an alles. Bis zur Anästhesie habe ich nie das Bewusstsein verloren.«
Sein Blick wandert zu den anderen Parkbesuchern. Ein Alter mit einem Hund, ein Jogger, ein Zeitung lesender Mann auf der letzten Bank neben dem Weidenbaum.
»Dieses Auto war nicht zufällig dort.«
Er sagt es im gleichen nüchternen Ton, mit dem er die Zeitung am Kiosk gekauft hat. Wenige Worte, auf die ich seit Jahren warte und die auf mich nicht den erhofften Effekt haben.
»Dieses Auto war wegen uns dort. Für uns alle drei.«
»Kein perfekter Job.«
»Findest du? Und das sagst ausgerechnet du, nachdem du ewig auf diesem Nummernschild herumgeritten bist? Jetzt frage ich dich: Was erinnerst du von dem Unfall?«
»Das weißt du doch, Papa. Wir haben tausendmal darüber gesprochen.«
»Nein, das weiß ich nicht. Fangen wir anders an. Wo war Elena?«
»Sie saß neben mir, wie immer.
»Genau. Und ich hinten.«
»Wie immer, Papa.«
»Ja, ja, wie immer. Weißt du noch, wer angeschnallt war?«
Ich schweige. Er hat recht. Ich habe nur an das Nummernschild gedacht und den Rest vergessen.
Elena war nicht angeschallt, sie schnallte sich nie an.
»Wann ist dir das aufgegangen?«
Adriano spielt mit dem Rand der Zeitung. Er reißt einen Streifen Papier ab, faltet ihn zusammen, streicht ihn wieder glatt.
»Ich habe echt keine Ahnung. Mit der Zeit, nach und nach. Was von vornherein klar war, ist, dass das keine Warnung mehr war.«
»Und deshalb hast du aufgehört.«
»Ja. Das war die einzige Möglichkeit, die Dinge klarzustellen und … zu überleben? Sagen wir es ruhig. Du warst am Leben und ich auch. Und da war Giulia. Aber ich habe nie aufgehört, darüber nachzudenken, genau wie du. Nur aus einem anderen Blickwinkel.«
Ich nicke.
»Wieso sagst du mir das jetzt?«
»Weil wir uns erst einmal vertrauen müssen, wenn wir gemeinsam aus diesem Schlamassel herauskommen wollen. Mit Elena war das einfacher, es gab keine Bindungen. Ich weiß nicht, ob ich mich klar ausdrücke. Sie war der reine Instinkt, wie ein Tier. Sie konnte stundenlang den Mund halten und dann kam man drauf, dass sie ein Detail bemerkt hatte, das einem selbst entgangen war und durch das sie alles durchschaut hatte. Und so wird sie auch auf Solara gekommen sein.«
»Wann hast du begriffen, dass sie ihn nicht erfunden hatte?«
»Die Wahrheit? Als sie gestorben ist. Mit dem Unfall. Ich hatte schon so einen Verdacht, aber es waren seltsame Tage. Zu viel, an das man denken musste. Die ENIMONT-Schmiergelder, der Zusammenbruch des alten politischen Systems, die Wahlen. Die Zeitung, die mir im Nacken saß. Und dabei wollte ich nur an der Sache mit der Semprini-Gruppe und Mirri dranbleiben. Ich hab abermals versucht, ihn zu interviewen, aber er hat mich hingehalten. Eines Nachmittags hab ich versucht, ihn abzufangen. Ich wusste, wo er anzutreffen war. Ich bin gerade noch davongekommen. Als er sich erschossen hat, habe ich begriffen, dass ich recht hatte, dass Clara, Giuseppe und der Typ, mit dem ich immer Kaffee getrunken habe, im Grunde ein und dieselbe Geschichte erzählen. Und die wollte ich mir vornehmen. Ich habe mit Elena darüber gesprochen. Sie schien auf einer ganz anderen Ebene zu sein. Heute kann ich es mir nur damit erklären, dass Giuseppe erkannt hat, mit wem es sich weiterzumachen lohnte. Wer seine Arbeit zur Obsession gemacht hätte.«
»Glaubst du, sie hat ihn wiedergetroffen?«
»Da bin ich mir sicher. Aber frag mich nicht warum, ich könnte es dir nicht sagen.«
Ich lehne mich gegen die Parkbank.
»Weißt du, was sie mir eines Nachts gesagt hat? Dass sie nie aus der Via d’Amelio zurückgekehrt sei.«
»Niemand von uns ist je aus der Via d’Amelio zurückgekehrt, merk dir das. Niemand. Tangentopoli hat damit nichts zu tun. Das, was wir heute sind, haben wir dieser Bombe und denen im Jahr darauf zu verdanken. Nur, dass wir es erst nach langer Zeit begriffen haben. Sie ist
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