Bleiernes Schweigen
vielleicht schon damals draufgekommen. Wir liefen hinter der Gegenwart her, uns genügten die Fakten. Elena schaltete schneller, sie wollte wissen, was passierte. Und sie hatte recht. Sie hat immer recht gehabt. Erzählen reicht nicht. Eine Weile hat sie mich im Schlepptau gehabt. Dann hat sie irgendwann beschlossen, alleine weiterzumachen.«
Ich atme tief durch. Schließe die Augen. Versuche mir vorzustellen, was meine Frau sagen würde, wenn sie sähe, wie wir die Zeit mit der Vergangenheit verplempern, statt uns richtig um die Gegenwart zu kümmern.
Ich öffne die Augen.
Da ist ein Labrador, rund zehn Meter von uns entfernt. Er rennt neben einem zwanzigjährigen Jungen her. Er überholt ihn, wartet auf ihn, wird langsamer, läuft ihm nach. Adriano sieht ihnen gebannt zu, wie ein Kind vor einem Zeichentrickfilm.
»Was weißt du von diesen Aufzeichnungen?«
»Wenig. Vielleicht nichts. Ich weiß so ungefähr, woran sie gerade arbeitete, aber das nützt wohl nichts, wenn man nicht dahinterkommt, was sie bedeuten. Das Wichtigste ist, dass sie nicht vollständig sind.«
»Du hast ihn nicht gesehen, stimmt’s?«
»Was hätte ich sehen sollen?«
Mit den Zähnen reißt er sich ein Hautfetzchen vom Finger. Er spricht mit gesenktem Blick. Das, was er sagt, scheint ihm Angst zu machen.
»Auch ich habe einen Alptraum von diesem Tag. Wir sitzen im Auto, der Unfall ist passiert, mir ist kalt und ich kann kaum atmen. Ich bin sicher, dass wir alle sterben werden. Dann höre ich ein Geräusch. Ein Auto, zumindest glaube ich das. Eine Stimme. Ich verstehe nicht, was sie sagt, und auch nicht, ob sie von einem Menschen, einem Radio oder einem Lied stammt. Ich weiß es nicht. Ich weiß, dass sich Schritte nähern, aber nicht, aus welcher Richtung.«
Er schweigt. Atmet. Als er wieder zu reden anhebt, klingt seine Stimme wie ein vom Wind zerbrochener Ast.
»Zuerst sehe ich die Hände. Ich weiß nicht, woher sie kommen und wie sie in den zertrümmerten Wagen gelangt sind. Aber sie sind da. Und nehmen den Rucksack. Dann, ohne ein Wort zu sagen, haut der Typ ab.«
»Bist du sicher, dass Elena schon …«
»Du hast sie nicht … Im Auto, meine ich.«
»Nein.«
»Dann glaub mir.«
Ich versuche zu lächeln. Greife nach der Hand meines Vaters. Ich frage mich, seit wie vielen Jahren ich das nicht mehr getan habe und wie lange Giulia es nicht mehr bei mir getan hat.
»Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, diesen Mann zu suchen.«
Ich sehe Adriano an und fürchte mich fast vor der Frage, die mir herausrutscht.
»Kannst du dich an ihn erinnern?«
»Und wie. Vorausgesetzt, es ist kein Albtraum.«
Ich sehe ihn verständnislos an. Er versucht ein Lächeln.
»Ein Alptraum, genau. Es kann nichts anderes sein. Wenn du so ein Gesicht siehst, kannst du nur hoffen, dass es nicht real ist.«
Domenico Graffeos Zimmer ist ein Dom des Schweigens.
Befangen bleibt Daniele auf der Schwelle stehen und wartet. Der Arzt überprüft die Krankenakte, mustert den Monitor, wechselt ein paar gedämpfte Worte mit seinem Patienten und geht. Der Richter tritt ein, stellt einen Stuhl neben das Bett, zieht einen Stift und einen Notizblock aus der Tasche und legt beides auf eine Pappunterlage auf seinen Knien. Ordentlich nebeneinander, wie ein Ritual. Dann hebt er den Blick und sieht dem Cosa-Nostra-Mann in die Augen.
»Guten Tag, Graffeo. Ich freue mich, dass es Ihnen besser geht.«
»Ja, mir geht’s besser. Geht’s Ihnen gut?«
»Alles in Ordnung, danke. Also, wie Sie sehen, ist kein Anwalt hier und niemand schreibt mit. Dies ist eine private Unterhaltung. Tun Sie einfach so, als säßen Sie in der Bar. Den einen oder anderen Kaffee werden Sie in Ihrem Leben doch getrunken haben, oder?«
Graffeo nickt. Daniele spielt mit der Stiftkappe. Dann lässt er die Finger knacken und sieht auf die Uhr.
»Also, Solara«, fängt er an.
Der Cosa-Nostra-Mann seufzt tief.
»Ich habe nichts zu sagen.«
Daniele legt den Stift nieder. Zieht die Schultern hoch.
»Mal sehen, ob ich mich klar ausdrücken kann. Der Beamte da draußen ist hier, damit Sie nicht abhauen. Sie sind verhaftet. Dieses Zimmer ist zur Zeit Ihre Zelle. Doch da ist eine Kleinigkeit, auf die ich Sie gerne aufmerksam machen würde.«
Er senkt die Stimme. »Mir ist bewusst, dass Ihre Wahrnehmung durch die Medikamente, die Ihnen verabreicht werden – nun ja – gestört sein könnte. Man hat auf Sie geschossen, Graffeo. Dass wir uns unterhalten, ist nur dem reinen, glücklichen
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