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Bleiernes Schweigen

Bleiernes Schweigen

Titel: Bleiernes Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ferruccio Pinotti , Patrick Fogli
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passiert ist, mit dem Leben davongekommen sind? Wenige. Sehr wenige. Und das ist keine Angeberei, Dottore. Es ist die Wahrheit. Die hätten mir den Gnadenschuss verpassen können. Sie hätten noch eine halbe Stunde weiterballern können. Stimmt schon, ich hab einen von denen getroffen. Vielleicht sind sie deshalb abgehauen. Aber um hier reinzukommen und mich kaltzumachen, muss es schon einen triftigen Grund geben. Haben Sie verstanden, Dottore?«
    Daniele nickt.
    »Na, sehen Sie. Wenn ich aber jetzt mit Ihnen über Ignazio Solara rede, bin ich tot. Eine Möglichkeit gegen eine Gewissheit. Wofür würden Sie sich entscheiden?«
    »Ich kann Sie schützen.«
    Graffeo lacht. Das Lachen geht in einen Hustenanfall über.
    »Sie können mich schützen«, sagt er schließlich. »Sie können mich schützen. Wie Gaspare Pisciotta, oder was? Diese Art Schutz wollen Sie mir zukommen lassen?« Er hustet wieder. »Sie wissen nichts über Ignazio Solara. Sie wissen das, was Sie von diesem Verräter Reale erfahren haben. Und es stimmt, ich habe getrunken und bin gern mit schönen Frauen unterwegs, und vielleicht habe ich übertrieben. Aber jetzt bin ich nicht mehr derselbe wie vorher.«
    Er schiebt das Laken zurück, zeigt seine Wunden, die Verbände, die Schläuche. »Sehen Sie, Dottore? Ich bin nicht mehr derselbe wie vorher. Man verändert sich. Soll ich ehrlich zu Ihnen sein? Ich bin jung und heiße Graffeo. Und Sie haben nichts in der Hand. Okay, diese Drogensache mit den Reales. Aber ich habe Reale nicht umgebracht und Mazza hat sich erschossen. Sie können mir keinen Mord anhängen. Ich soll wegen Drogen ein paar Jahre brummen? In Ordnung. Ihr werft mir Mafiazugehörigkeit vor? Bitte. Wie viel macht das insgesamt? Mit wie viel muss ich schlimmstenfalls rechnen? So um die zehn, fünfzehn Jahre? Ich bin sechsundzwanzig, Dottore. Sie können besser rechnen als ich.«
    Er sieht auf seine Verletzungen. Zieht das Laken hoch. Plötzlich wirkt er sehr müde. Daniele mustert Graffeo und denkt, dass er an seiner Stelle das Gleiche tun würde. Er hat keinen Grund zu reden. Nichts könnte ihn dazu bringen.
    Außer die Angst. Eine Angst, die von so weit her kommt, dass noch nicht einmal er als Richter darauf Einfluss nehmen kann. Er legt den Stift beiseite und lässt die Fingerknöchel knacken. Dann sagt Graffeo plötzlich das, womit er nicht gerechnet hätte.
    »Vielleicht seht ihr die Sache von der falschen Seite, Dottore.«
    Daniele schließt die Augen, fährt sich mit der Hand übers Gesicht und tut so, als ließe ihn das, was er soeben gehört hat, kalt.
    »Und welches wäre die richtige?«
    »Das Opfer an diesem Morgen war nicht Reale. Das wissen Sie, stimmt’s?«
    »Und wenn ich es wüsste?«
    »Wenn Sie es wüssten, könnten Sie die ganze Sache aus einem anderen Blickwinkel betrachten.«
    »Und das hat was mit Solara zu tun?«
    Graffeo seufzt, wirft einen abwesenden Blick auf die Zimmertür und senkt die Stimme.
    »Ihr seht viel zu oft nach vorn, Dottore. Sie sollten ausnahmsweise mal nach hinten sehen.«
     

 
    Es regnet.
    Zuerst kam der Wind, leise wie eine ferne Erinnerung. Ein Flüstern, das ich nicht sofort verstand. Kaum merklich streicht er durch die Bäume vor dem Haus. Dann ist der Himmel grau, die Luft schwer und der Wind stärker geworden.
    Ich bin nach oben gegangen. Von der Terrasse aus sehe ich das von Blitzen durchzuckte Tal. Die Stadt im Hintergrund war unter einer dichten, violetten Dunstglocke verschwunden. Ich bin dort stehengeblieben, die Ellenbogen auf die Brüstung gestützt, den frischen Wind im Gesicht, der Ozongeruch erfüllte die Luft und die dunklen Wolken rückten immer näher.
    Ich hab auf den Regen gewartet und weiß nicht, warum.
    Hier erscheint alles anders, selbst die Jahreszeiten. Im Winter will der Schnee nicht weichen und wird zu einem lästigen Freund, mit dem man sich arrangieren muss, den man aber eigentlich ganz gern um sich hat. Der Sommer hingegen ist viel zu kurz. Eigenwillig wie eine kapriziöse Frau.
    Früher habe ich Regen gehasst. Heute könnte ich ihm stundenlang zusehen. Wenn es nicht kalt ist, bleibe ich geschützt auf der Schwelle zur Terrasse stehen. Ich atme den Duft ein, sehe den Tropfen zu, die vom Fensterbrett springen, lausche dem Rauschen.
    Hier haben die Jahreszeiten Stimmen. Wer in dieser Gegend aufgewachsen ist, versteht vielleicht sogar, was sie sagen. Ich begnüge mich damit, es zu versuchen. Als Junge habe ich das beim Bossa nova getan. Ich versuchte, aus dem

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