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Bleiernes Schweigen

Bleiernes Schweigen

Titel: Bleiernes Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ferruccio Pinotti , Patrick Fogli
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Rhythmus eine Grammatik herauszuhören, und glaubte, die Melodie enthielte bereits den ganzen Sinn.
    Das war natürlich nicht so. Aber ich versuche, diese Illusion wieder heraufzubeschwören, jetzt, da die einzige Grammatik die Stille und der Sinn, den ich suche, die Einsamkeit ist.
    Ich schließe das Fenster und gehe wieder hinein.
    Denke an einen anderen Regen.
    Der Tag meines Treffens mit Daniele, vierundzwanzig Stunden nachdem ich mit meinem Vater gesprochen hatte. Ich hatte versucht, eine Webcam zu installieren, in der Hoffnung, hin und wieder das Gesicht meiner Tochter sehen zu können.
    Das Gewitter war ganz plötzlich gekommen, rüttelte an Fenstern und Türen. In einem unerklärlichen Panikanfall hatte ich gerade noch alles zumachen können, ehe der Hagel einsetzte.
    Vielleicht war es tatsächlich Panik.
    Die Vergangenheit überkommt einen, wenn man sie am wenigsten sucht, grausam, unvermutet, hinterrücks.
    Von jenem Nachmittag im Auto erinnere ich einen Streit. Für lange Zeit, nachdem ich aus dem Koma erwacht war, hatte ich mit dem Gedanken leben müssen, dass das letzte Gespräch mit Elena ein Streit gewesen war. Eine schmerzliche, niederschmetternde Erinnerung. Vielleicht war ich darüber abgelenkt gewesen. Wären wir nicht laut geworden, wäre ich vielleicht konzentriert genug gewesen, den Unfall zu vermeiden. Vielleicht wäre ohne diese Worte heute alles anders.
    Ein absurder Zweifel, das weiß ich jetzt genauso wie damals, der im vollkommenen Widerspruch zu dem gezielten Manöver steht, mit dem das andere Auto uns in den Abgrund katapultiert hat. Wenn nichts dem Zufall geschuldet war, konnte ich auch nichts verhindern. Doch bis zu den Worten meines Vaters existierte zumindest die Möglichkeit, dass ich mir alles nur einbildete und das Ereignis, das unser Familienleben von Grund auf verändert hat, ein grausamer Zufall wäre wie viele andere.
    An die Diskussion selbst erinnerte ich mich nicht mehr, lediglich an das Grundgeräusch. Das Gefühl, es wäre wichtig, etwas, das ich seit allzu langer Zeit ignoriert hatte und das genau jetzt in diesem Moment zur Sprache gebracht werden musste.
    Du musst merken, wann Schluss ist.
    Das ist der letzte Satz, den ich meiner Frau, der dickköpfigsten und unbeirrbarsten Frau der Welt, gesagt habe. Keine Ahnung, warum.
    An jenem Regennachmittag, nachdem ich die Türen und Fenster geschlossen hatte und darauf wartete, dass der Hagel wieder der Stille wich, habe ich begriffen, dass diese Erinnerung falsch war. Ich habe es begriffen, als ich eine Jeans aus dem Schrank gezogen und überlegt habe, wann ich das Haus verlassen müsste, um mich mit Daniele zu treffen.
    Heute, während draußen ein anderer und doch gleicher Regen niedergeht, versuche ich zum x-ten Mal zu begreifen, was diese Erinnerung hochgespült hat. Das habe ich mich in all den Jahren häufig gefragt, und die einzige Antwort, die ich gefunden habe, ist dieselbe wie heute.
    Es gibt keinen Grund. Die Dinge passieren einfach, das Leben ergibt keinen Sinn. Jeder Versuch, darin ein Muster zu entdecken, endet in Vermutungen, im Absurden oder Übernatürlichen.
    Ich habe keine Zeit für solchen Mist. Ich habe ja kaum genug Zeit zu leben. Und zu schreiben.
    Du musst merken, wann Schluss ist.
    Das habe nicht ich gesagt. Elena hat nicht mit mir gestritten. Nicht ich habe versucht, sie von einer Einbahnstraße abzubringen.
    Es war mein Vater. Das habe ich während des Gewitters begriffen. Einen Augenblick bevor ein nummernschildloser Wagen die Gegenfahrbahn eingenommen und unser Leben beendet hat, drängte mein Vater meine Frau, ihre Recherchen an den Nagel zu hängen.
    »Du musst merken, wann Schluss ist«, sagt Adriano. »Das ist viel zu gefährlich. Diese Leute spaßen nicht.«
    Keine Antwort. Keine Chance des Überdenkens. Ein paar Minuten nach dem Ende des Satzes ist Elena bereits tot.
     
    Die Papiere liegen auf dem Wohnzimmertisch. Daniele hat sie nach einem ganz eigenen System geordnet, das nur er durchschaut. Auf dem Boden stapeln sich weitere Mappen, Hefter, vergilbte Zeitungen, daneben zwei Pappschachteln, eine Wasserflasche, ein paar Bierdosen und eine Zwei-Liter-Flasche Sprite.
    Er wohnt in einem zweistöckigen Reihenhaus am Stadtrand von Florenz. Leicht zu erreichen und zu überwachen. Die Leute vom Begleitschutz lassen ihn keine Sekunde aus den Augen. Nur im Haus sind wir allein.
    »Manchmal frage ich mich, ob ich das an deren Stelle machen würde«, sagt er und greift in den Kühlschrank. »Die

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