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Bleiernes Schweigen

Bleiernes Schweigen

Titel: Bleiernes Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ferruccio Pinotti , Patrick Fogli
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Leben bleiben.« Er lächelt. »Vorläufig.«
     
    Als ich nach Hause komme, merke ich, dass ich Angst habe.
    Vor der Stille, vor dem Geräusch des Aufzugs im menschenleeren Treppenschacht, vor der unmerklichen Gegenwart der Nachbarn. Vor dem Alleinleben. Vor allem, das mir bis gestern so vorkam, als könnte ich es nie verlieren.
    Wenn ich an Elena denke, an die Tage, in denen diese vier Wände voller Geräusche waren – Telefongeklingel, Trickfilme, die Giulia bis zum Abwinken geschaut hat, zahllose Streits und Versöhnungen, Geld, das nie reichte, geräuschloser Sex neben dem Kinderzimmer, in dem unsere Tochter schlief –, kommt es mir wie die Erinnerung an ein Leben vor, das ich nicht gelebt habe.
    Ein Leben, von dem ich mir allzu oft und voller Schuldbewusstsein eingestehen muss, dass es mir nicht fehlt.
    Es ist die Zukunft dieser Momente, die mir fehlt. Die kommenden Tage, die heranwachsende Tochter, Elena, die Adrianos Stelle übernimmt, die Streits, die wir noch immer gehabt hätten, die Wehmut in unseren Gesichtern an dem Tag, an dem Giulia beschlossen hätte, auszuziehen. Mir fehlt ihr Lächeln und ihre Wut und die Versicherung durch einen einfachen Blick, dass selbst diese täglichen Plänkeleien, das Gerangel, das Schweigen und schließlich die Hände, die sich leise berühren und sie, die mich ansieht und sich eine Strähne aus der Stirn schiebt, einzig und allein unsere Sache waren.
    Unser Leben fehlt mir, nicht meines. Und ich halte es nicht mehr aus, ich kann nicht so weiterleben, nicht jetzt, da innerhalb weniger Tage alles zusammengebrochen ist. Nicht jetzt, da das wackelige Gleichgewicht, auf dem meine Jahre normalen Überlebens standen, nicht mehr hält.
    Und während ich den Schlüssel im Sicherheitsschloss drehe, die Tür hinter mir wieder abschließe, sämtliche Lichter anschalte und die wenigen Schritte vom Eingang in die Küche und dann ins Wohnzimmer und dann ins Schlafzimmer und ins Arbeitszimmer mache, fühle ich mich das erste Mal seit langem richtig einsam.
    Ich lege Danieles Sammelmappe neben den Computer und fange an zu lesen. Als ich fertig bin, ist es fast Nacht. Außer Elenas Unterlagen sind da noch die Urteile aus Florenz zu den Attentaten von ’93, das Berufungsurteil zum Anschlag von Capaci sowie der Teil der Prozesse zur Via d’Amelio, die bereits zum Urteil gelangt sind.
    Ich lege alles in die Sammelmappe, kehre in die Küche zurück und hole mir eine Packung Orangensaft. Ich stelle den Fernseher im Wohnzimmer an, schalte auf einen Nachrichtenkanal, setze mich mit übergeschlagenen Beinen in den Sessel, trinke direkt aus der Tüte und hole tief Luft.
    Bis Mitternacht bleibe ich dort sitzen. Dann wird die Müdigkeit plötzlich unerträglich. Ich schalte den Fernseher ab, lasse die Rollläden herunter, versichere mich zweimal, dass die Sicherheitstür geschlossen ist und das Stangenschloss fest in der Wand steckt.
    Im Bett schlafe ich sofort ein. Ein Traum voller Bilder, an die ich mich nicht erinnere, begleitet mich bis zum Morgen. Dann bin ich bereit, wieder zu meinem Vater zu gehen.
     
    Adriano weiß nicht mehr genau, wann Elena angefangen hat, ihr eigenes Ding zu machen.
    »Anfang ’93 war ich vollauf von Tangentopoli in Beschlag genommen.«
    Ich nicke. Von jenen Tagen zwischen Februar und März ’93 sind mir das Warten auf den Ermittlungsbescheid und die täglichen Rücktritte in Erinnerung. Der Justizminister. Der Sekretär der Liberalen. Der der Republikaner. Männer des linksdemokratischen PDS. Und dann Schwarzgelder, Nummernkonten in der Schweiz. Das decreto Conso: der Versuch der Regierung, illegale Parteifinanzierungen für straffrei zu erklären, der Staatspräsident, der sich weigert zu unterschreiben, und dann der Ermittlungsbescheid gegen Andreotti wegen Mafiazugehörigkeit, die Geburt einer Technikerregierung, die Abstimmung des Parlaments, das die Genehmigung zur Strafverfolgung gegen Craxi verweigert, und die Menschen vor dem Hotel Raphael, die ihn mit Münzen bewerfen.
    In wenigen Monaten hat sich alles verändert. Und vierzehn Tage nach dem Protest gegen Craxi fangen die Bomben an.
    »Zu Hause wurde nicht mehr über die Arbeit gesprochen«, sage ich. »Darauf hatten wir uns geeinigt. Ich glaubte, es würde ihr helfen, weiterzumachen und nicht … daran zu ersticken.«
    »Sie wollte nicht über ihre Arbeit reden. Darüber, was sie wusste.«
    »Und ich habe sie nichts gefragt.«
    Adriano sieht mich noch immer nicht an. Er hat die Ellenbogen auf die Knie

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