Bleischwer
schluchzte
und konnte nichts dagegen tun, dass ihre Schultern wild zuckten.
Michael
Faßbinder schwieg betroffen und offenbar ziemlich verwirrt.
»Schsch«,
machte er unbeholfen. Eine bandagierte Hand legte sich auf ihren Oberschenkel,
wanderte hoch und strich über ihren Bauch. Er versuchte sich aufzusetzen, sank
aber kraftlos auf das Kissen zurück. »Ist ja gut, Jule. Ich hör ja auf … «
»Du
hast das Richtige getan! Das einzig Richtige!«, wiederholte sie stur, im
eigenen Elend gefangen. Sie konnte sich gar nicht beruhigen. »Bleib bei mir.«
»Ich
hatte nicht vor abzuhauen«, schmunzelte Micha. »So schnell wirst du mich nicht
los.«
Die Nachwehen der Ereignisse
waren das Schlimmste: Zähe Gespräche mit dem dicken Kommissar und seiner
hageren Mitarbeiterin. Wiederholte Treffen und Telefonate mit Anwälten. Denn
nicht nur Micha stützte sich auf seinen Verteidiger, sondern auch Jule hatte sicherheitshalber
einen Rechtsbeistand engagiert.
Dann
ging es weiter: Sobald Jörgs Leiche freigegeben war, organisierte Jule die
Beerdigung. Seine Mutter, die immer schon ein ambivalentes und äußerst
gespanntes Verhältnis zu ihrem Sohn gehabt hatte, weigerte sich standhaft, die
Bestattung zu veranlassen. Mit einem Dieb, Mörder und Brandstifter wolle sie
nichts zu tun haben. Und erst recht nicht in einen Topf geworfen werden. Also
musste Jule alles übernehmen.
Jana
griff der großen Schwester tatkräftig unter die Arme. Wo Jule zauderte,
handelte die jüngere. Wo die ältere verzweifelte, tröstete Jana. Und Tobi,
Jules inzwischen achtzehnjähriger Sohn, der seinen Amerika-Aufenthalt vorzeitig
abgebrochen hatte, war ebenfalls eine echte Hilfe. In einer ganz speziellen
Hinsicht: Er trauerte um seinen Stiefvater, zwar irritiert von dessen
Verfehlungen, aber nichtsdestoweniger aufrichtig und tief. Dies bot Jule einen
Orientierungspunkt. Durch Tobi inspiriert weckte sie die positiven Erinnerungen
an ihren verstorbenen Mann. Sie gestattete es sich, um ihn zu weinen und ihn
sogar zu vermissen. Ohne dabei zu vergessen, was Gier und Selbstgerechtigkeit
aus ihm gemacht hatten. Es waren schlimme, verworrene Wochen und Monate.
Derweil
half Micha seiner Großtante so gut er konnte durch die Krise. Er wich nicht von
ihrer Seite. Gerti hatten die Geschehnisse merklich altern lassen. Von ihrer
resoluten Art waren nur noch Bruchstücke übrig geblieben. Zeitweilig wirkte sie
sogar leicht dement.
Micha
kümmerte sich darum, dass sie in das Mobilheim neben seinem eigenen einzog. Er
sorgte dafür, dass das ausgebrannte Fertighaus abgerissen wurde. Er veranlasste
Hermanns Urnenbeisetzung auf dem Steinbacher Friedhof. Außerdem sprach er mit
dem dortigen Pfarrer wegen einer Grabstelle für Stefan und Sonja. Er wollte,
dass sie zusammen lagen. Ob das möglich sei? Der Pfarrer versprach, sein Bestes
zu versuchen und die Angehörigen zu kontaktieren.
Micha
wollte auch seiner Cousine beistehen. Schließlich saß ihr Mann in
Untersuchungshaft, und sie war mit den vier Kindern und dem Misstrauen der
Steinbacher Dorfgemeinschaft ganz allein. Erstaunlicherweise benötigte Beate
Becker keine Hilfe. Sie entfaltete eine Energie, die ihr niemand zugetraut
hätte. Sie schaffte es sogar irgendwie, zu ihrem Mann zu stehen. Auf eine
selbstverständliche, äußerst nüchterne, abgeklärte Art und Weise. Vielleicht
genoss sie es sogar, einmal die Stärkere in der Beziehung zu sein. Der
Dorfpolizist erlitt einen Nervenzusammenbruch, nachdem Beate ihn am frühen
Sonntagmorgen – wie mit Micha abgesprochen – von
seinen Fesseln erlöst hatte. Zuvor hatte sie die Kripo verständigt. Frank
sollte sich nicht aus der schmutzigen Geschichte herauswinden können.
Bald
widmete Micha sich mit ganzer Kraft dem ›Eifelwind‹. Gerti war froh, ihn mit seiner
Verlässlichkeit und Arbeitswut zur Seite zu haben. Gemeinsam entwickelten sie
ein Konzept, wie man den Campingplatz am Leben erhalten und gleichzeitig Stück
für Stück der Sparkasse das geraubte Geld zurückzahlen könne.
Der
Prozessbeginn war für Anfang Oktober angesetzt. Jule fürchtete den Termin und
fieberte ihm gleichzeitig entgegen. Einerseits wollte sie all das schleunigst
hinter sich lassen, andererseits hatte sie Angst vor dem Ausgang. Welche
Haftstrafen erwarteten Leo und Peter? Und Micha? Würde er glimpflich davon
kommen? Sein Rechtsanwalt ging davon aus, gewiss war es allerdings nicht. Jule
lief mit einem mulmigen, aber auch freien, flattrigen Gefühl in jeden
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