Bleischwer
neuen
Tag.
Gleichzeitig
räumte sie das Haus in der Griegstraße. Es sollte verkauft werden. Tobi und sie
würden eine kleine Wohnung anmieten, bis ihr Sohn sein Abitur in der Tasche
hätte und sein Jurastudium in Düsseldorf begänne. Dann würde er in ein
Studentenwohnheim ziehen.
Und
sie? Micha wollte, dass sie zu ihm in den ›Eifelwind‹ kam und dort mit ihm
lebte. Wollte sie selbst das auch? Sie wusste es nicht. In Bezug auf Micha war
sie einfach ratlos.
Durfte sie ihn lieben? Nach
allem, was geschehen war? Passten sie überhaupt zusammen? Konnte sie es sich
gestatten, glücklich zu sein? Etwas in ihr schreckte davor zurück und ballte
sich in ihrem Magen zu einem klebrigen Klumpen zusammen. Die beiden sahen sich
nicht in diesen Frühlings-und Sommermonaten. Manchmal telefonierten sie
miteinander, aber auch das nur sporadisch. Etwas von dem Zauber zwischen ihnen
war abgebröckelt und unachtsam fortgewischt worden.
Es war
ein gewittriger, verregneter Tag mitten im August, der alles entschied. Jule
kam gerade von Neuss nach Hause. Nach Jörgs Tod hatte sie ihre Stelle beim
Diakonischen Werk gekündigt, um die Sekretariatsarbeit in der Kanzlei zu
übernehmen. Auf diese Weise hielt sie dem völlig überlasteten Partner Ralf
Lohmann den Rücken frei und ersparte ihm die Neuanstellung einer
Verwaltungskraft. Die alte Sekretärin hatte im Angesicht von Jörgs Schandtaten
entrüstet das Weite gesucht.
Jule
betrat ihre kleine Wohnung im dritten Stock des Mehrfamilienhauses in Büttgen.
Schon im Hausflur hörte sie ihr Telefon klingeln und sprintete nach oben. Beim
Abheben identifizierte sie die kurze Eifeler Telefonnummer. Ihr Herz pochte.
Micha! Aber die Stimme, die ihr tief und heiser ins Ohr drang, war gar nicht
seine.
»Hallo
Küng, Jerti hier.«
»Ja?«,
fragte sie verdattert. Warum rief seine Großtante an? War etwas passiert?
»Erschreck
dich nit, Küng. Du bruchs dir kin Sorch zu maache.« Die alte Frau hustete und
setzte noch einmal neu an: »Keine Sorge. Bei uns im ›Eifelwind‹ ist alles in
Ordnung.«
»Dann
ist ja gut.« Jule warf sich auf die Couch. Aber dass Gerti unvermittelt ins
Hochdeutsche gewechselt hatte, verstärkte ihre Sorge. Es erinnerte sie an ein
schlimmes Geständnis und an Hermanns geschundenen Leichnam.
»Ich
muss einfach mal in Ruhe mit dir sprechen«, schallte die raue Stimme weiter aus
dem Hörer. »Ohne den Jungen. Hast du Zeit?«
»Ja,
kein Problem.« Jule streifte die Sandalen von den Füßen und lehnte sich zurück.
Von hier aus hatte sie einen fantastischen Blick aus dem Fenster über das weite
Flachland Richtung Neuss-Grefrath und auf die Skihalle. Hinter den Windrädern
am Horizont knäulten sich bedrohlich dunkle Wolken zusammen. So wie in ihrem
Magen. Was wollte Gerti bloß von ihr?
»Wir
vermissen dich, Kind. Du bist lange nicht mehr hier gewesen.«
Jule
seufzte. »Ich hab halt viel zu tun … «
»Das
ist eine Ausrede und du weißt es«, konterte die alte Frau. Es klang vorwurfsvoll.
»Und der Junge weiß es auch. Er leidet wie ein Hund. Ist dir das eigentlich
klar?«
Schon
wollte sie protestieren, dass das wohl ein wenig übertrieben sei, Micha melde
sich ja kaum noch bei ihr, doch die Gerti redete einfach weiter.
»Ihr
gehört zusammen, ihr zwei. Vor allem nach dem, was ihr … was
wir … durchgemacht haben! Tausendmal hab ich zu ihm gesagt, er soll
einfach an den Niederrhein fahren und dich holen. Heim in den ›Eifelwind‹.«
Jetzt
musste sie doch widersprechen. »Meine Heimat ist in Kaarst. Hier bin ich zu
Hause.«
»Du
bist da zu Hause, wo dein Herz ist«, hielt Gerti resolut dagegen. »Auch wenn
dein Mann noch nicht lange unter der Erde ist, sage ich dir jetzt eins: Ihr
habt nie zusammen gepasst, spießig wie der war. Er hat dich nicht glücklich
gemacht. Aber mein Micha, der macht dich glücklich.«
»Ach
Gerti, was bedeutet schon Glück?«
Das war
Jule glatt herausgerutscht.
Pause.
Dann ein Räuspern.
»Wenn
du es kriegen kannst, bedeutet es alles! Sieh mal, mein Hermann ist tot. Ich
kann das Glück nicht zurückholen. Aber du, du brauchst nur 100 Kilometer zu fahren und hältst
es in den Armen.«
»Gerti,
ich kann nicht.« Und erst in dem Moment wurde es ihr bewusst: Sie hatte es
nicht verdient. Es war zu viel, einfach zu viel. Tränen stiegen ihr in die
Augen. Am liebsten hätte sie aufgelegt.
Aber
Gerti blieb hartnäckig. Ruhig sagte sie: »Der Junge hat also recht. Du wehrst
dich mit Händen und Füßen. Er sagt, dass dich
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