Bleischwer
Rauch auf das Wohnzimmer über.
»Raus
hier!«, schrie Micha. »Hilf mir, Jule!«
Gemeinsam
zerrten sie Gerti zur Vordertür. Der verwelkte Frühlingskranz schlenkerte hin
und her, als sie nach draußen in die Dunkelheit stürzten.
Erst am
Angelsee machten sie Halt, Gerti von beiden Seiten untergehakt. Jule starrte
fassungslos auf das Fertighaus hinter der Buchendecke, das inzwischen eine
einzige brennende Fackel war. Erschöpft sank sie ins feuchte Gras.
Wie viel Zeit von der Starre
bis zum ersten klaren Gedanken vergingen, vermochte sie später nicht mehr zu
sagen. Sie erinnerte sich nur noch, irgendwann das Handy hervorgeklaubt und
Feuerwehr und Polizei verständigt zu haben. Micha kümmerte sich währenddessen
um seine Großtante. Vorsichtig begutachtete er die große Brandwunde an ihrem
Oberarm, tunkte einen Zipfel der Wolldecke, mit der Jule das Feuer an ihrem
Ärmel erstickt hatte, in den See und kühlte damit die verbrannte Stelle. Dass
er selbst frische Brandblasen an Händen und Armen aufwies, kümmerte ihn nicht.
Gerti nahm die Behandlung völlig teilnahmslos hin. Ab und zu murmelte sie
Wortfetzen wie: »… Ming Schuld … ming jlühende Kippe … Feuer … Hermann … alles hin … «
Micha
strich ihr behutsam über die runzeligen Wangen mit den Tränenspuren und warf
Jule besorgte Blicke zu.
Jule
fühlte sich nahezu unverletzt. Einzig das linke Schienenbein war versengt.
Schmerzen hatte sie nicht. Trotzdem schlotterte sie ohne Unterlass. Nur der
Schock, sagte sie sich. Nichts weiter.
Sie
warf einen Blick hinauf zum Himmel, an dem der runde, pralle Mond gleichmütig
glänzte. Das Drama auf dem kleinen Campingplatz in der Nordeifel war wohl nur
eines von unzähligen, die er mit seinem Licht beschien. Jule kam sich klein und
unbedeutend vor. Das tat gut. Es rückte die Dinge in die richtige Relation.
Bald
kamen die ersten Schaulustigen und näherten sich vorsichtig, aber wie magisch
angezogen, dem Brandherd. Das kleine Grüppchen am Seeufer nahm niemand wahr.
Dann hörte man in der Ferne das Martinshorn der Feuerwehr. Benommen bekam Jule
mit, wie dem Brand zu Leibe gerückt wurde. Micha saß zwischen seiner Tante, die
er im Arm hielt, und Jule, deren Hand er streichelte.
»Ich
werde mich stellen«, sagte er leise und Jule hörte ihm Entschlossenheit und
Resignation an. »Es wird Zeit.«
Bedauern,
Sorge und eine diffuse Ahnung von tiefer Einsamkeit krochen in ihr hoch. Sie
drückte seine Hand und fühlte die Wärme und das Versprechen, die von ihr
ausgingen.
»Ich
bin bei dir«, flüsterte sie zurück.
Jule
spürte seine Erleichterung. Da bog ein Rettungswagen in hohem Tempo und lautem
Tatütata auf den Schotterweg zu dem brennenden Haus der Weyers ein. Direkt
dahinter folgten zwei Polizeiautos und ein ziviler Pkw. Einige schattenhafte
Personen sprangen aus den Fahrzeugen, darunter eine sehr beleibte.
»Es
geht los«, sagte Micha und atmete tief durch. »Komm, es nützt nichts. Gerti
braucht Hilfe.«
Sie
ließen die alte Frau einen Moment im Ufergras sitzen, um Hand in Hand zu den
Einsatzkräften zu laufen. Die schützende Dunkelheit der klaren Märznacht
spuckte sie aus und warf sie der Öffentlichkeit und der Übermacht vor die Füße.
Nie würde sie den
triumphierenden, geradezu frohlockenden und gleichzeitig selbstzufriedenen
Gesichtsausdruck Wesselings vergessen, sobald er Michael Faßbinder Gewahr
geworden war. Der fette Kommissar grinste breit, während zwei seiner Leute
ihrem Freund die Arme auf den Rücken drehten und Handschellen anlegten. Micha
ließ alles widerstandslos über sich ergehen und zuckte lediglich kurz zusammen,
weil das Metall in die verbrannte Haut schnitt.
»Er
braucht ein Arzt!«, protestierte Jule aufgebracht. »Genau wie Gertrud Weyers,
die er aus den Flammen gerettet hat. Bitte, dahinten sitzt sie … « Mit
zitterndem Finger zeigte sie zur spiegelglatten Fläche des Angelsees. »Wenn
Micha nicht gewesen wäre, wären sie und ich jetzt tot. Genau wie mein Mann tot
ist, der da drinnen durchgedreht ist und alles in Brand gesetzt hat und … und
Melanie Pütz-Coenen, die ihre Schwester erstochen hat … und
Hermann, der … «
Weiter
kam sie nicht, denn Schwindelgefühl und Schwärze verschluckten sie und
beförderten sie ins wohltuende, alles auslöschende Nichts.
Jule Maiwald erwachte in einem
Meer aus blendendem Weiß. So jedenfalls kam es ihr vor, als sie blinzelnd die
Augen öffnete. Alles war sehr hell und klar und die Stille friedlich.
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