Bleischwer
die
Stille der Natur.
Jule betrachtete
den athletischen Gang des Mannes vor ihr auf dem schmalen Waldweg. Wieder
einmal bewunderte sie die völlige Konzentration, die er ausstrahlte. Er war
das, was er tat. In sich ruhend, Körperlichkeit pur.
Während
des gesamten Anstiegs bis zur Anhöhe ließ sie ihn nicht aus den Augen, genoss
den Schwung seiner Schritte, die Symmetrie der breiten Schultern, den Takt der
Bewegungen. Ihr kam Jörg in den Sinn, für den sportliche Ertüchtigung einzig
und allein dem Zweck diente, den Körper fit und in Form zu halten. Er hatte
weder Spaß am täglichen Joggen noch am Training mit den Gewichten im Keller. Es
ging lediglich um das Ergebnis: ein möglichst jugendliches, schlankes und
muskulöses Äußeres. Geistige Arbeit war für ihn die einzige, die zählte. Der er
Respekt schuldete und die er selbst zelebrierte.
Wie
anders war Michael. Er schien es zu lieben, in Bewegung zu sein. Eins mit
seinem Körper, alles Geistige ausblendend. Sie schluckte, als sie begriff, dass
sie die beiden Männer miteinander verglich. Was sollte das? Wohin führte das?
Oben
angekommen, drehte Micha sich erstmals zu ihr um. Sein Blick kam aus der Ferne.
Schließlich lächelte er. Stellte die Verbindung her.
»Okay,
da wären wir. Jetzt links oder rechts?«
Er war
kein bisschen außer Atem. Jule dagegen brauchte einen Moment, bis Puls und
Herzschlag sich normalisierten. Sie schnappte nach Luft und überlegte.
»Nach
rechts, dann bleiben wir auf dem Kamm und haben einen schönen Blick ins Tal«,
entschied sie. »Und mehr Sonne.«
Er
nickte zustimmend. Schweigend gingen sie nebeneinander durch die tief
verschneite Welt. Bis Michael sie unvermittelt ansprach.
»Wie
lange bleibst du noch im ›Eifelwind‹?«
Sie
zuckte zusammen. Die Frage warf sie zurück auf die Probleme, mit denen sie sich
absolut nicht beschäftigen wollte. »Weiß nicht.« Sie vermied den Augenkontakt
mit ihm. »So lange wie nötig eben.«
»Gerti
sagt, du bist verheiratet und dass ihr sonst immer gemeinsam hergekommen seid.
Oft auch mit eurem Sohn.«
»Meinem
Sohn«, korrigierte Jule automatisch. »Jörg und ich sind erst seit zehn Jahren
zusammen. Tobi ist schon siebzehn. Er ist seit knapp zwei Monaten als
Austauschschüler in den USA.«
Eine
Weile stapften sie wortlos weiter durch den Schnee. Die Sonne wärmte die Haut.
Jule zog ihre Handschuhe aus.
»Der
›Eifelwind‹ ist ein guter Ort, um zu sich zu kommen«, durchbrach Michaels
angenehm tiefe Stimme noch einmal die Stille. »Ich kann mir nicht vorstellen,
zur Zeit woanders zu sein.«
Jule
sah ihn neugierig von der Seite an. »Ich auch nicht«, bekannte sie. »Nur hier habe
ich das Gefühl, ich selbst zu sein. Alles ist so einfach und frei von Sorgen
und dem ganzen Ballast, den man sonst mit sich rumschleppt.«
»Aber
du kannst vor deinen Problemen nicht weglaufen. Sie holen dich ansonsten immer
wieder ein.«
Das
klang so resigniert, dass sie unwillkürlich stehen blieb. Er tat es ihr nach
und schaute an ihr vorbei in die Weite der Nordeifeler Wälder.
In dem
Moment krachte ein Schuss durch das Tal. Er hallte in den Bergen wider und
dröhnte in den Ohren. Jule erschrak. Auch Michael war zusammengezuckt. Sein
Gesicht war aschfahl.
»Scheiße«,
flüsterte er. »Stefan.« Sein Blick streifte sie. Nackte Panik lag darin. »Komm,
wir müssen zurück.«
Sie
traten den Rückweg an, und ihr Herz schlug wild. Was Michael gerade
unabsichtlich verraten hatte, verstörte sie. Er kannte den gesuchten
Ausbrecher. Kein Zweifel. Warum sonst sollte er ihn beim Vornamen nennen? Aber
natürlich traute sie sich nicht nachzufragen.
Plötzlich
fürchtete sie sich vor dem Mann, mit dem sie hier mutterseelenallein unterwegs
war. Und nicht zum ersten Mal fragte sie sich, wer er war.
Alles auf dem Campingplatz war
in heller Aufregung. Verängstigte Wintercamper drängten sich an der Rezeption.
Nur Gerti hinter ihrer Theke war die Ruhe selbst.
»Hallo
Jung«, begrüßte sie Michael. Ihr Lächeln war warm und freundlich. Besänftigend.
»Ich hann denne Lück he versproche, de Polizei anzorofe. Der Schuss hät all he
janz schön upjescheusch. Moment ens.«
Sie
verschwand im Nebenraum und schloss die Tür hinter sich. Jule hörte ihre heisere
Altstimme einige kurze Fragen bellen, ohne den Wortlaut ausmachen zu können.
Als Gerti zurückkehrte, wirkte sie heiter und gelassen.
»Blüngder
Alarm«, erklärte sie in die Runde der unruhig Wartenden. »Ene von denne
Insatzkräfte is
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