Bleischwer
zu lassen, aber es klappte nicht.
Irgendwann hab ich ihn aus den Augen verloren.« An dieser Stelle pausierte
Michael und betrachtete Jule ernst. »Er ist kein schlechter Kerl, weißt du, nur
völlig haltlos. Sein Alter hat ihm eingeimpft, nichts wert zu sein. Ein
Versager. Irgendwann glaubte er es selbst.«
»Das
Prinzip der sich selbst erfüllenden Prophezeiung«, murmelte Jule. Als sie
Michaels verständnislosen Blick sah, erklärte sie: »Es ist so, wie du gesagt
hast. Eine Theorie. Eine Erwartung oder eben Prophezeiung wird wahr, weil du
selbst daran glaubst und deshalb unbewusst danach handelst. Im Positiven wie im
Negativen. Wenn man dir z. B.
ständig einredet, dass du ungeschickt bist und du dieses Bild von dir
irgendwann verinnerlichst, wirst du bald über Unebenheiten stolpern oder
Geschirr umstoßen. Man nennt es das Prinzip der sich selbst erfüllenden
Prophezeiung.«
Michael
nickte langsam.
»Ja, so
war es mit Stefan. Es wurde immer schlimmer mit ihm. Diebstähle,
Einbruchserien, Schlägereien, Raub. Bis es zum Supergau kam, als er bei dem
Bankraub damals in Euskirchen den Polizisten erschossen hat. Mitten ins Herz.
Eiskalter Mord, hieß es. Die Geiselnahme kam noch dazu. Da hat er
Lebenslänglich mit dem Zusatz der besonderen Schwere der Schuld kassiert. Das
heißt im Klartext: keine Bewährung nach fünfzehn Jahren, sondern Strafhaft bis
heute. Sicherungsverwahrung kam oben drauf, weil er bereits dreimal wegen
Gewaltdelikten vorbestraft war und ihm nach der Verhaftung noch zwei weitere
Überfälle angelastet werden konnten. Für die Richter war er ein typischer
Wiederholungstäter, unverbesserlich und gefährlich für die Öffentlichkeit. Er
war 25 Jahre
lang eingebunkert, ohne ein Ende in Sicht, bevor er ausbrach.«
»Hast
du ihn mal besucht?«, wollte Jule wissen.
Michael
schüttelte den Kopf. »Nein, ich hatte zu viel mit mir selbst zu tun. Auch wenn
sich das wie eine lahme Ausrede anhört.«
»Was
will er hier im Tal?«
Sein
Blick flackerte. Sie ahnte, dass sie dabei war, sich zu weit vor zu wagen.
»Keine
Ahnung. Zu mir jedenfalls nicht. Er weiß nicht, dass ich hier lebe.«
Jule
konnte nicht anders. Sie musste einfach weiter fragen: »Was würdest du tun,
wenn du ihm begegnen solltest?«
Michael
starrte sie an. Seine Mimik drückte Härte und Entschlossenheit aus. »Ihn aus
dem Tal rausbringen natürlich. Die kriegen ihn früh genug. Aber meine Schuld
soll es nicht sein.«
»Das
wäre Fluchthilfe und strafbar«, wendete sie erschrocken ein.
»Ich
weiß, aber die alte Freundschaft wäre es mir wert.«
Unvermittelt
sprang er auf, lief zu einem Küchenschrank und entnahm ihm eine Cognacflasche.
Seine Finger zitterten, als er sich die goldene Flüssigkeit in den Kaffee goss.
»Gestern
Abend hast du mich noch vor dem Mann gewarnt und beschworen, mich nachts
einzuschließen. So einen willst du schützen?«
»Er
kennt dich nicht und würde dich, wenn nötig, als Geisel nehmen«, erläuterte
Michael bestimmt. »Er steht mächtig unter Strom, ist bewaffnet und hat
wahrscheinlich Todesangst. Klar musste ich dich vor ihm warnen. Das heißt aber
nicht, dass Stefan ein Monster ist. Das wollen uns nur die Medien und die
Bullen einreden.«
»Der
Mann ist ein Mörder, vergiss das nicht. Und das hat sich nicht die Presse
ausgedacht«, erwiderte Jule aufgebracht.
»Der
einen Polizisten getötet hat, weil er keinen Ausweg mehr sah. Das war
furchtbar, der reinste Horror, aber nicht die Tat eines Monsters«, konterte
Michael.
Jule
verstand, was er meinte. Jemand, der in höchster Not um sein Leben bangt,
befindet sich im Ausnahmezustand. Er handelt weder überlegt noch abgebrüht,
sondern in purem Selbsterhaltungstrieb. Egal, ob er die Situation, in der er
sich befindet, selbst verursacht hat.
»Vielleicht
hat die lange Zeit im Gefängnis ein Monster aus ihm gemacht. Könnte doch sein«,
wagte sie nun zu spekulieren. Mit Bitterkeit dachte sie an das Gespräch mit
Jörg zurück und an dessen rigide Unbarmherzigkeit gegenüber den in der
Gesellschaft Gescheiterten. »25 Jahre lang Gewalt und Unterdrückung ausgesetzt zu sein ohne
Hoffnung auf Gnade … Was soll dabei Gutes herauskommen?«
Verblüfft
schaute Micha sie an. Sie las Respekt in seinen Zügen.
»Da
könntest du natürlich recht haben. So habe ich es noch gar nicht gesehen.«
Er fuhr
sich mit beiden Händen durch das Haar, worauf sie nach allen Seiten zu Berge
standen. »Wie dem auch sei. Ich hab keine Idee, wo Stefan sich versteckt
Weitere Kostenlose Bücher