Bleischwer
Ort und Stelle über dem Stammtisch, ebenso wie die
unzähligen Sinnsprüche und Gedichte an den übrigen Wänden, die Hermann mit
Leidenschaft sammelte.
»Spare
in der Zeit – dann hast du in der Not«, hieß es da zum Beispiel in einem
verschnörkelten Holzrahmen. Die Buchstaben waren aus Pfennigmünzen
zusammengesetzt. Mit Kreuzstich auf vergilbtes Tuch gestickt war dagegen das
kitschige Gedicht, das Jule längst auswendig aufsagen konnte:
›Der
Wind streicht übers Eifelland
Nach
Kall und über Mechernich.
Das ist
uns allen wohlbekannt.
Hier
bleibe ich und sterbe ich.
Wo auch
schon meine Wiege stand.‹
Jule fühlte sich sofort
heimisch. Wie jedes Mal, wenn sie die Zeilen überflog, musste sie an ›ihren‹
Briefträger zu Hause in Kaarst-Büttgen am Niederrhein denken, der sein
Lebensmotto einmal so formuliert hatte: »In Büttschen bin ich jebore, hier leb
ich, hier sterb ich.« Lokalpatriotismus ist überall gleich, dachte sie
schmunzelnd.
Bald
saßen sie sich an dem kleinen quadratischen Tisch in der Ecke gegenüber, den
Peter umsichtig reserviert hatte. Über ihnen wucherte drohend ein grünes
Rankengewächs. Von ihrem Platz aus hatte Jule sowohl den Eingangsbereich als
auch die Theke gut im Blick. Genau richtig. Sie hasste es, mit dem Rücken zum
offenen Raum zu sitzen.
Hermann
hatte ihnen hinter der Zapfanlage freundlich zugewunken, nachdem sie den Raum
betreten hatten. Jetzt unterhielt er sich angeregt mit zwei alten Bauern aus
der Gegend, während sich eine mollige Bedienung mit flächigem, blassen Gesicht
den Weg zu ihnen bahnte. Beide bestellten ›Forelle Eifelwind‹ und dazu Pils.
Wenige Minuten später prosteten sie sich zu und genossen das frische, eiskalte
Bier.
Peter
Odenthal smalltalkte, flüssig, leicht und humorvoll wie immer. Über das Wetter,
das Angeln, das Leben auf dem Campingplatz und über seine Arbeit. Bald wurde
Jule von seiner unbeschwerten Art angesteckt.
»Mein
Gott, Jule. Wie oft hab ich ihr schon gesagt«, lästerte er über die Sekretärin,
die sein Partner und er neu in der Kanzlei eingestellt hatten, »dass sie die
Mandanten freundlich begrüßen soll. Aber es nützt nichts. Sie beäugt sie
weiterhin so misstrauisch unter ihren künstlichen Wimpern, als ob es allesamt
Meuchelmörder seien und ringt sich, wenn sie besonders gut drauf ist, höchstens
mal ein gequältes ›Hi‹ ab. Dann immer dieses Kaugummikauen. Ich sag dir, die
Frau bedient wirklich jedes Klischee einer blonden Tippse, was man sich
vorstellen kann. Fingernägel wie ›Freddy Kruger‹ – dieser
Typ aus den alten Nightmare-Horrorfilmen – , High
Heels wie Heidi Klum, Lippen und Brüste wie Dolly Buster … «
Jule
kicherte. »Warum habt ihr sie denn überhaupt eingestellt, Leo und du?«
Leonard
Fröhlich war Peter Odenthals Freund aus Studententagen und seit vielen Jahren
sein Partner in der Kölner Kanzlei.
»Sie
hatte super Zeugnisse«, wehrte sich Peter verzweifelt und zog einen Flunsch.
»Inzwischen halte ich sie allesamt für Fälschungen!«
»Ach,
gib’s doch zu. Ihr seid auf ihre Optik reingefallen! Eine Blondine, mit großem
Busen und Schmollmund«, foppte Jule ihn.
Jetzt
lachte Peter breit. Seine hellen Augen in dem gebräunten Gesicht funkelten
durchtrieben.
»Okay,
aber das war ein zu vernachlässigender Aspekt«, schränkte er ein. »Außerdem
ging der Schuss gründlich nach hinten los. Hat bloß unsere Frauen auf die
Barrikaden gebracht. Steffi und Anja toben vor Eifersucht. Dabei hat die Kleine
den IQ von einem Toastbrot. Absolut abtörnend, wenn du mich fragst … Wie
oft habe ich mir in den letzten Monaten die Wefers, die alte Schreckschraube,
zurückgewünscht. Das hätte ich mir vorher auch nie träumen lassen … « Er
seufzte theatralisch und leerte sein Pils in einem Zug. »Wie angenehm ist es
dagegen, mit einer intelligenten und gleichermaßen schönen Frau ein Gespräch zu
führen.« Er zwinkerte ihr zu und grinste frech. Dann wurde er plötzlich ernst.
»Wirklich schade, dass Jörg das zurzeit nicht wahrnimmt.«
Jule
fuhr unwillkürlich zusammen. Ihr Herz setzte für einen Moment aus. Ihre Finger
wurden taub. Sie schluckte mit einem Kloß im Hals. »Woher weißt du … ?«
»Ich
habe ihn vorhin angerufen. Er kommt morgen zum Skat spielen, Leo übrigens
auch.«
»Jörg
kommt in den ›Eifelwind‹?
Ihre
Frage war nur mehr ein Flüstern gewesen. Der Schock hatte ihr die Stimme
verschlagen.
»Ja.«
Jetzt sah Peter sie bedauernd an. »Ich wusste ja nicht,
Weitere Kostenlose Bücher