Bleischwer
Weinflasche. »Du hast einen Schock.«
Gehorsam
setzte sie die Flasche an die bebenden Lippen und nahm einen großen Schluck.
Und noch einen. Erst als sie leer war, stellte sie sie ab.
»Was
jetzt?«, fragte sie in die Stille des Wohnwagens hinein, während der Alkohol
wohltuend in ihre Glieder strömte.
Michael
räusperte sich. »Ich bleib bis morgen früh bei dir.«
Es
klang zögernd und zugleich entschlossen.
Jule
lachte spöttisch auf. Eigentlich jedoch war ihr zum Weinen zumute. »Damit ich
nicht zur Polizei renne und deinen Mörderfreund verrate?«
In
welchen Horror war sie da hinein geraten? Und zum ersten Mal seit über einem
Monat sehnte sie sich nach Jörgs Armen, nach seiner Überlegenheit, die
einerseits Sicherheit, andererseits Arroganz ausstrahlte. Zuallererst aber nach
seiner Rechtschaffenheit. Gut und Böse waren bei ihm stets am rechten Platz.
Schwarz und weiß sauber getrennt. Doch Jörg war weit weg. Stattdessen hielt sie
ein Krimineller gefangen, der sich irgendwie ihr Vertrauen erschlichen hatte.
»Ich habe
es Stefan versprochen.«
Sollte
das etwa eine Entschuldigung sein?
Jetzt
ging Michael in die Hocke, legte seine großen Hände auf ihre Knie und suchte
ihren Blick. »Außerdem möchte ich dich nicht allein lassen. Ich bin schuld,
dass du in diese Scheiße geraten bist. Ich will es wieder gutmachen.«
»Hah.«
Das war doch verrückt. »Wie großmütig von dir. Indem du mich hier gefangen
hältst!«
»Es tut
mir leid.« Immer noch war seine Stimme sehr sanft. Behutsam. »Glaub mir, ich
habe auch gedacht, dass ich diesen Mist lange hinter mir habe. Und als ich
damals die Beute da draußen an deinem Weinstock vergrub, habe ich bestimmt
nicht damit gerechnet, dass jemals jemand Unschuldiges mit hineingezogen wird.
Zu der Zeit war dieser Stellplatz so gut wie unbewohnt. Dein Opa kam nur noch
selten her. Es war das ideale Versteck. Ich wollte niemandem schaden, Jule,
sondern mich bloß selber von der ganzen Scheiße befreien.« Michael erhob sich
und glitt ihr gegenüber auf das Sitzpolster. »Außerdem hatte ich Angst um
Stefan und ein schlechtes Gewissen. Ich hatte ihn im Stich gelassen. Hab es
ausgenutzt, dass er angeschossen worden war. Nur deshalb konnte ich den Bullen
entwischen. Nie hätte ich die Beute behalten können. Sie stand Stefan zu, weil
er dafür lebenslänglich kassiert hat. Glaub mir, diese Sache damals hat einen
anderen Menschen aus mir gemacht.« Er holte kurz Luft und fuhr dann erschöpft
fort: »Aber die Vergangenheit holt einen immer wieder ein. Morgen früh, wenn
ich dich gehen lasse, werde ich mich der Polizei stellen. Das Spiel ist vorbei.
Ich weiß das.«
Überrascht
runzelte Jule die Stirn.
»Meinst
du das ernst? Du willst ein Geständnis ablegen?«
Er
nickte.
»Was
sonst? Kommt ja doch alles raus.«
Jule
betrachtete Michael nachdenklich, dachte an seine Ausgeglichenheit, wenn er auf
dem Campingplatz arbeitete. An die Zufriedenheit, die seine Bewegungen bei den
einfachen Tätigkeiten an der frischen Luft ausstrahlten. Der zeremonienartige
Charakter und die Gelassenheit, die all dem inne wohnten. Außerdem kam ihr das
penibel aufgeräumte Mobilheim in den Sinn und der freie Blick aus den
gardinenlosen Fenstern. Freiheit. Selbstbestimmung.
Ein
Entschluss reifte in ihr. Sie begriff ihren Sinneswandel selbst nicht ganz,
aber sie fühlte, dass die Entscheidung die einzig Richtige war.
»Wir
müssen niemandem erzählen, dass Stefan hier war«, sagte sie mit brüchiger
Stimme. »Dann kommt gar nichts raus. Keiner hier außer Gerti und Hermann weiß,
dass du ihn kennst, geschweige denn, dass du mit ihm vor 25 Jahren eine Bank überfallen
hast. Wir können die Vergangenheit ruhen lassen. Ganz einfach.«
Michael
war fassungslos. »Das würdest du wirklich tun? Für mich?«
Sie
nickte langsam. »Und für deinen Freund. Dann hat er vielleicht noch ein Chance,
das Geld zu finden und es seiner krebskranken Freundin zu geben.«
Sie leerten gemeinsam,
einträglich an dem schmalen Tisch mit der abgeschabten Platte sitzend, eine
zweite Flasche Wein. Dann eine dritte. Dabei sprachen sie wenig. Es war, als
müssten sie sich zunächst von dem Wust an Gesagtem und Getanem erholen. Jule
war tief in Michael Faßbinders Privatsphäre eingedrungen und er hatte ihre
durch die Loyalität zu dem flüchtigen Verbrecher verletzt. Wie konnte der
Schaden repariert werden? Durch Schweigen und Betäubung, da schienen sich beide
einig zu sein.
Also
kippten sie Glas um Glas und
Weitere Kostenlose Bücher