Bleischwer
schrecklichen Mord der letzten Nacht.
Kurz zuvor hatte der Mörder noch an ihrem Tisch im Wohnwagen gesessen. Sie war
tatsächlich drauf und dran gewesen, ihn nicht nur als Täter, sondern auch als
Opfer von Gesellschaft und Justiz zu sehen. Sie hatte ihm geglaubt, als er
davon sprach, seine krebskranke Exverlobte retten zu wollen. Die er liebte. Und
anschließend war er losgezogen, um sie brutal abzuschlachten. Mit unzähligen
Messerstichen. Während sie, Jule, vom Alkohol enthemmt und triebgesteuert mit
seinem Komplizen ins Bett stieg.
Plötzlich
hielt sie es nicht mehr in dem muffigen Holzhaus aus. Ihr Hals schnürte sich
zu. Sie musste Abstand gewinnen. Abstand von dieser gewalttätigen,
verbrecherischen Geschichte, von Micha, dem Faktotum, von ihrem Ehebruch, doch
zuallererst Abstand von sich selbst. Also lief sie aus dem Gebäude, zunächst
langsam, dann immer schneller. Der plattgefahrene Schnee auf den Wegen war
glatt; ein paar Mal geriet sie ins Straucheln und wäre fast gestürzt. Außer
Atem erreichte sie nach ein paar Minuten ihren Stellplatz. Gerade wollte sie
den Anbau betreten, als ein Impuls sie inne halten ließ.
Wie
ferngesteuert umrundete sie den Pavillon und näherte sich dem knotigen
Weinstock am Fuße des Felsbrockens. Schon von Weitem erkannte sie das Loch, das
Stefan Winter gegraben hatte. Rund um den großen Stein war die Erde
aufgeworfen, der Schnee bräunlich verfärbt und zertrampelt. Ein Spaten,
zweifellos der ihres verstorbenen Großvaters, lag achtlos daneben. Sie hockte
sich hin und betrachtete alles ganz genau. In einer tiefen Mulde direkt
zwischen Weinstockstamm und Gestein steckte eine alte, teils rostige, teils
metallisch glänzende Blechbüchse in der Größe eines Schuhkartons. ›Eifeler
Landbrot‹ entzifferte Jule mühsam die eingestanzten Buchstaben im Blech. Eine
Brotbox. Aha. Sie öffnete den verbeulten Deckel. Die Scharniere quietschten.
Die Dose war leer, wie Stefan gesagt hatte. Wie lange hatte das Geld hier
gelegen?, fragte sie sich. Und wer hatte es ausgegraben? Sie erhob sich mit
steifen Gliedern und griff nach dem Spaten, als eine Stimme sie inne halten
ließ.
»Jule.«
Es war
Michael.
»Warum
bist du gegangen?«, fragte er.
»Lass
mich in Ruhe.«
Langsam
drehte sie sich zu ihm um, den Spatengriff in der Hand. Michas Blick war
fragend. Seine ganze Haltung drückte Niedergeschlagenheit und Besorgnis aus.
»Bitte«,
ergänzte sie etwas freundlicher. »Ich wäre jetzt gern einfach allein. Keine
Sorge, ich werde nicht zu Polizei gehen. Wirklich nicht.«
Er
nickte. »Danke.« Leicht berührte er sie am Arm, senkte den Kopf und ging.
Jule
sah ihm nach. Am liebsten hätte sie ihn zurückgehalten. Warum, das war ihr
selbst nicht ganz klar. Sie spürte nur diesen Sog, der von ihm ausging.
Sie stieß
den Spaten in einen der aufgeworfenen und inzwischen angefrorenen Erdhaufen.
Notdürftig – sie schaffte es einfach nicht besser – schloss sie das Loch neben dem Felsbrocken. Anschließend bedeckte sie die
Stelle, die nun wie eine eiternde Wunde aussah, mit frischem Schnee aus einer
Schneewehe. Machte sie sich gerade strafbar? Wahrscheinlich. Spurenbeseitigung,
Behinderung polizeilicher Ermittlungen. Aber indem sie Michael deckte, verhielt
sie sich sowieso gesetzwidrig. Da machte diese Kleinigkeit auch nichts mehr
aus.
Gegen 14 Uhr verließ sie den
Stellplatz. Auf keinen Fall wollte sie riskieren, Jörg zu begegnen. Ihr Mann
war ein Ausbund an Pünktlichkeit. Eher kam er zu früh als zu spät. Und da er
und Leo um 15 Uhr mit
Peter verabredet waren, war es an der Zeit zu verschwinden.
Der
Himmel hatte sich zugezogen. Außerdem war es wärmer geworden. Jule stapfte
durch den Schneematsch über den Fußweg. Absichtlich hatte sie eine Route
gewählt, die nicht an der Rezeption und dem Bereich mit den Mobilheimen vorbei,
sondern zum Hinterausgang des Campingplatzes führte. Gerade passierte sie die
alte Minigolfanlage und den Spielplatz mit seinen Schaukeln, der Rutsche und
dem Klettergerüst. Flächen und Spielgeräte lagen unter ihren Schneehauben
einsam da. Die Parzellen zur linken Seite strahlten in jungfräulichem Weiß, das
lediglich von den zarten Spuren der Vögel und Kaninchen durchbrochen wurde.
Jule holte tief Luft. Ihre Schritte wurden größer. Sie war froh, vom
Campingplatz wegzukommen. Weg von der Schuld, die bleischwer auf allem lastete.
Sie wollte wenigstens für kurze Zeit alles hinter sich lassen: Michas Schuld,
Stefan Winters Schuld und
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