Bleischwer
taxierten sich vorsichtig. Die Stille schuf
Intimität. Verschworene Verschwiegenheit.
Als
Jule ins Bett gehen wollte und sie sich von der Bank erhob, streifte ihr Knie
seines. Die Berührung kam einer Explosion gleich. Ihm ging es wohl ähnlich.
Auch er stand auf, leicht schwankend.
Dann
lagen sie sich in den Armen, verschlangen sich gegenseitig mit Streicheln und
Küssen. Nachdem sie hinter der wackeligen Schiebetür in Jules Bett gelandet
waren, fielen sie übereinander her. Noch nie in ihrem Leben hatte Jule einen
dermaßen eiligen wie leidenschaftlichen Sex gehabt. Hemmungslos, heftig, einer
Urgewalt gleichkommend.
Selbst
danach konnte sie Michael nicht loslassen. Es ging einfach nicht. Völlig
erschöpft klammerte sie sich an ihn, um sofort in einen tiefen, traumlosen
Schlaf zu fallen.
Mit schlimmen Kopfschmerzen
erwachte sie, während sich eine kalte Wintersonne in den winzigen Schlafraum
stahl und ihre Wangen kitzelte. Ein fremder Mann lag wie tot neben ihr. Ihr
rechtes Bein umschlang seinen Oberschenkel. Gequält blinzelte sie ins Licht, um
danach die blasse nackte Haut Michaels zu betrachten.
Seine
schlichte Schönheit berührte und erschreckte sie zugleich. Bewundernd
registrierte sie die Wölbungen der Arm-und Brustmuskeln und die schmale Hüfte.
Sein Atem ging tief und gleichmäßig. Sein linker Arm lag um ihrer Taille.
Sie
bemerkte mit Erschrecken, dass er von Narben übersät war. Über die Innenseite
der Handgelenke und den gesamten Unterarm zog sich längs ein Muster aus
wulstigen weißen Linien. Sanft strich sie mit den Fingern darüber, fühlte die
Erhebungen. Schnittverletzungen. Viele. Heftige. Das ließ nur einen Schluss zu.
Ihr wurde ganz mulmig zumute.
Ihre
Hand verharrte in der Schwebe, dann legte sie sie wie einen Verband über die
Narben. Der Suizidversuch musste lange her sein, war aber zweifellos ernst
gemeint gewesen. Jule schloss die Augen und versuchte, alle Gedanken
auszublenden. Schlafen, dachte sie, nur noch ein bisschen schlafen.
Das
nächste, was sie bewusst wahrnahm, war Kaffeeduft. Verwirrt öffnete sie die
Augen und sah einen vollständig angezogenen Michael neben ihr am Bett sitzen,
der ihr einen dampfenden Becher unter die Nase hielt.
»Frühstück
ist fertig.« Seine graugrünen Augen funkelten. »Ist schon fast Mittag.«
Verdattert
rappelte sie sich hoch, wobei sie ihm beinahe den Kaffee aus der Hand schlug.
Einen Moment später hatte sie sich das Kopfkissen in den Rücken gestopft und
genoss kleine Schlucke des heißen Getränks.
»Das
tut gut«, murmelte sie. Kaum traute sie sich, Michael anzusehen. Was hatte sie
sich dabei gedacht, mit dem Typ ins Bett zu gehen? Sie war eine verheiratete
Frau und er … Sie wagte es nicht, den Gedanken zu Ende zu denken.
»Ich
würde gern gleich um zwölf die Nachrichten sehen«, brach Michael das Schweigen.
»Wäre das okay für dich?«
»Klar.
Schalt ruhig den Fernseher an. Ich zieh mir schnell was über.«
Als sie angekleidet,
eingecremt, gekämmt und mit frisch geputzten Zähnen, aber immer noch höllischen
Kopfschmerzen aus der Nasszelle zurück in den winzigen Wohnraum trat, begriff
sie sofort, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Der Bildschirm glänzte in
erloschenem Schwarz, und Michael, die Fernbedienung in der regungslosen Hand,
starrte ausdruckslos an ihr vorbei.
»Was
ist los?« fragte sie heiser.
Seine
entsetzten Augen irrten durch den Raum, bis sie endlich bei Jule ankamen.
»Sonja ist tot«, flüsterte er. »Sie wurde gestern Nacht in ihrem Haus in
Steinbach umgebracht. Erstochen.«
Das Grauen kroch stinkend durch
alle Ritzen in den alten Caravan und löschte sämtliche heimeligen
Kindheitserinnerungen an Oma und Opa Maiwald, an Maumau-Spiele zu dritt und an
heißen Kakao an kalten Winterabenden aus.
Stefan
Winter hatte seine ehemalige Verlobte getötet, kurz nachdem er Jules Stellplatz
verlassen hatte. Weil ihm klar geworden war, dass sie das Versteck des Geldes
ausgeplaudert oder es selbst ausgeräumt hatte. Das Gedicht geisterte
unaufhörlich in ihrem Kopf herum:
›So
wird es sein,
mein
Kind.
Wir
werden alt,
Der
Winter ist kalt,
doch
der Eifelwind
streift
durch den Maiwald
und
raschelt im Wein
über
dem Moos am Stein.‹
»Nein«, widersprach Michael
bestimmt und schüttelte heftig den Kopf. »Das darfst du nicht denken.«
Ihre
Antwort kam schnell. »Du denkst doch dasselbe.«
Er
schloss kurz die Augen, bevor er sie voller Zweifel ansah. »Ich weiß nicht«,
gab er
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