Bleischwer
verwirrt zu. »Ich denke es, aber ich kann es einfach nicht glauben.«
Der Dorfpolizist Frank Becker
hatte heute morgen gegen halb sieben per Zufall die Leiche der 46-jährigen
Sonja Bohr, geborene Pütz, in einer Lache aus getrocknetem Blut gefunden.
Die Tür
des kleinen Hauses mitten im Dorf war angelehnt gewesen, was den Beamten
misstrauisch gemacht hatte. Die Tote lag im Wohnzimmer des Hauses. Sie trug ein
Nachthemd. Überall im Erdgeschoss hatte man Stefan Winters Fingerabdrücke
sicher gestellt, nur die Tatwaffe, ein Brotmesser, war offenbar gründlich
abgewischt worden. Es fand sich neben der Ermordeten. Der Oberkörper der Frau
wies zahlreiche Stichwunden auf. Der Täter war zweifellos in Raserei gewesen,
als er sie tötete.
Alles
wies auf den flüchtigen Häftling hin. Die Ermittlungen hatten inzwischen
ergeben, welche Verbindung zwischen dem Verbrecher und Sonja Bohr bestanden
hatte. Man wusste nun auch, dass sie ihn kurz vor seiner Flucht einige Male im
Gefängnis besucht hatte.
All das
war in den Nachrichten berichtet worden, und Michael hatte es Jule erzählt. Er
war völlig fertig. Seine Hände zitterten, er wirkte benommen. Auch jetzt noch,
eine halbe Stunde später.
»Es
passt nicht zu ihm«, murmelte er. »Warum hätte er sie umbringen sollen?«
Es war
müßig, darauf eine Antwort zu suchen. Jule war hin-und hergerissen zwischen
dem Wunsch, aus dem Wohnwagen zu fliehen, um all das Schreckliche hinter sich
zu lassen und dem Drang, den Mann, mit dem sie die Nacht verbracht hatte, zu
trösten. Beides kam ihr richtig und falsch zugleich vor.
Du
musst zur Polizei gehen und alles sagen, was du weißt, redete das Gewissen ihr
ein. Aber dann sah sie Michaels bleiches, verstörtes Gesicht. Man würde ihn
verhaften. Ihm die Freiheit nehmen, die ihm so lieb geworden war. Wegen einer
Sache, die ein Vierteljahrhundert zurück lag. Womöglich würde man glauben, er
habe die Flucht des Freundes aus der JVA Köln mit initiiert und sei in den Mord
verwickelt. Das konnte sie nicht zulassen. Zögernd legte sie ihre Hand auf
Michaels.
»Egal,
warum er es getan hat: Du hast nichts damit zu tun«, beschwor sie ihn
eindringlich.
Er
wandte ihr das Gesicht zu. Sie sah die Reue darin. »Ich habe ihn zu ihr
geschickt«, sagte er tonlos. »Ich habe nicht auf die Beute aufgepasst. Ich habe
Stefan nach dem Überfall im Stich gelassen und mich verpisst. Ich bin schuld.«
Und da
begriff sie, in welcher Hölle er seit Langem lebte.
Gerti stand hinter ihrer Theke,
die Hände in die speckigen Hüften gestemmt, und schien um Jahrzehnte gealtert.
Tiefe Furchen und Runzeln zogen ihre faltigen Wangen nach unten. Sie empfing
Jule und Michael mit einem zutiefst besorgtem Blick aus den verblichenen Augen.
Sonst befand sich niemand an der Rezeption oder im Laden. Natürlich, es war Sonntagmittag.
Die meisten Wochenendgäste hatten längst Mobilheime und Stellplätze geräumt und
waren nach Hause gefahren.
»Jung«,
begrüßte Gerti ihren Großneffen heiser. »Häss du et hat jehurt?«
Er
nickte nur.
»Kumm.«
Das
klang mütterlicher und fürsorglicher als alles, was Jule von ihrer Mutter je an
Trost bekommen hatte. Und Michael Faßbinder gehorchte automatisch und trat
hinter den Tresen. Gerti legte ihm einen Arm um die Hüfte, streichelte mit der
anderen Hand zart sein Haar und führte ihn in den Nebenraum. Resolut schloss
sie die Tür hinter sich.
Jule
blieb draußen. Sie fühlte sich wie eine Außenseiterin, im wahrsten Sinne des
Wortes ausgeschlossen. Was hatte Stefan Winter gestern Abend gesagt? Sie sei
von der anderen Seite. Zu gefährlich. Genau dasselbe Stigma spürte sie jetzt.
Unschlüssig blieb sie mitten im Raum stehen. Sollte sie gehen? Sollte sie
bleiben? Sie betrachtete die Schneemassen jenseits der Fensterscheiben, unter
denen die Zipfelmützen von Gertis Gartenzwergen schüchtern hervorlugten. Naturgewalt
kontra Spießbürgertum. Wer würde den Kampf gewinnen? Wahrscheinlich das
Spießbürgertum, dachte sie sarkastisch. Das ist nicht unterzukriegen. Sie
seufzte und schlenderte zum Broschürenständer in der Ecke, der die
Sehenswürdigkeiten und Freizeitmöglichkeiten in der Region anpries: das
›Eifelbad‹ in Bad Münstereifel, Burg Manderscheid, die Kakushöhle, diverse
Vergnügungs-und Wildparks, die Wasserburgenroute in Euskirchen.
Euskirchen.
Natürlich warf sie der Name der Stadt zurück auf den Bankraub, der dort vor 25 Jahren geschehen war. Erinnerte
sie an die verschwundene Beute und den
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