Bleischwer
natürlich und hauptsächlich ihre eigene.
Schuldig
im Sinne der Anklage. So oft schon. Sie war fremdgegangen und das nicht zum
ersten Mal. Jule Maiwald war eine Hangtäterin. Die Krise, derentwegen sie vom
Niederrhein in die Eifel geflüchtet war, hatte mit einem Seitensprung ihren
Anfang genommen. Flüchtig tauchte Jans’ Gesicht vor ihr auf, der Schwung seiner
Augenbrauen, die perfekt geformten Lippen unter der sehr geraden, sehr
dominierenden Nase. Sein wirres dunkles Haar mit den silbernen Fäden.
Zuallerletzt erlaubte sie sich, sich seine dunklen Augen ins Gedächtnis zu
rufen, die sie oft liebevoll und schelmisch zugleich betrachtet hatten.
Halt.
Stopp. Sie verbot sich jede weitere Erinnerung. Jan war Vergangenheit. Diese
Affäre hatte ihr nur Unglück gebracht. Entfremdung von Jörg, den Unfall und
noch vieles mehr. Jule zwang sich in die Gegenwart zurück. Sie konzentrierte
sich auf ihre Atmung und den Rhythmus der Schritte, ließ die Arme im Takt hin-und herpendeln. Beschleunigte ihren Gang. Bald erreichte sie die
verschnörkelte, schmiedeeiserne Pforte zum Wald. Eilig lief sie hindurch. Bloß
raus hier.
Der Bach neben ihr gurgelte
fröhlich, hüpfte und sprang unbeschwert über Steine und Wurzeln. Er erinnerte
Jule daran, dass es außerhalb der Schwere von Schuld und Versagen noch so etwas
wie Leichtigkeit und Freude gab. Jule atmete durch. Die Schneeglöckchen, die
zwischen den Bäumen durch die Schneedecke lugten, schienen ihr zuzunicken. Der
Frühling kam. Bald. Sie lächelte. Der Frühling ist immer ein Neubeginn. Auch
für sie. Sie musste sich nur davon anstecken lassen. Der Druck wich von ihr und
machte einer zögerlichen Heiterkeit Platz.
Immer weiter
wanderte sie auf dem Weg. Links wurde er vom Bachbett, rechts vom Mischwald
gesäumt. Als sie Steinbach erreichte, war es fast Viertel vor drei. Jule las
die Uhrzeit an den goldenen Zeigern der Kirchturmuhr ab. Die weiß verputzte,
schlichte Kirche lag rechts von ihr am Hang. Umgeben wurde sie von einem kleinen
gepflegten Friedhof. Geradeaus erstreckte sich der Ort mit seiner schmalen
gewundenen Dorfstraße, um die sich schiefe Häuser und Höfe mit engen
Toreinfahrten drängten. Salz war gestreut worden; der Asphalt blitzte
tiefschwarz zwischen grauem klumpigen Schneematsch hervor. Jule zögerte. Sollte
sie wirklich mitten durch das Dorf gehen? Ein grausiger Mord war dort passiert.
Erst letzte Nacht. Liefe sie weiter, würde sie sich erneut mit Schwere und Schuld
umgeben, noch dazu mit Trauer und Entsetzen. Wenn in solch einem winzigen Nest
ein gewaltsamer Tod geschah, blieb kein Einwohner davon unberührt. Dann befand
sich ausnahmslos jeder hier unter Schock.
Jule
erinnerte sich daran, dass in ihrem Heimatdorf Driesch im Rheinland in ihrer
Kindheit ein fünfjähriges Mädchen auf der Hauptstraße von einem Lastwagen
überfahren worden war. Jule hatte die Kleine nur vom Sehen gekannt, und doch
hatte sie wochenlang nicht schlafen können. Im Ort hatte es nur ein Gesprächsthema
gegeben, ob zwischen den Hausfrauen im Dorfladen, den Männern beim Kegeln in
der Gaststätte oder den Kindern auf dem Spielplatz. Das Leid durchdrang und
überwucherte alles. Wie eine Dornröschenhecke. So würde es auch in Steinbach
sein.
Sie
beschloss, trotzdem weiter zu gehen. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war,
hauptsächlich aus Neugierde.
Sie erkannte das Haus von
Weitem. Weiß-rotes Flatterband verwehrte Unbefugten den Zutritt und brandmarkte
das verfallene Gebäude gleichzeitig als Zentrum des Verbrechens. Das
zweistöckige, aus Naturstein errichtete Häuschen war zwischen zwei anderen,
ebenso unansehnlichen, eingequetscht. Es stand dicht an der Bordsteinkante.
Verdorrtes Unkraut klemmte zwischen Hauswand und Straße. In den kleinen
Fenstern hingen schmuddelige Gardinen; an der grau gestrichenen Haustür
blätterte der Lack ab. Schaulustige gab es seltsamerweise nicht. Lediglich zwei
uniformierte Polizisten bewachten den trostlosen Tatort. In einem davon
erkannte sie Frank Becker, den Dorfpolizisten, der abends gern in Hermanns
Kneipe auf ein Bierchen hereinschaute. Er war ein stattlicher Mann um die
vierzig, breitschultrig, braunhaarig, testosterongeschwängert. Hatte der nicht
die Leiche gefunden? Jule näherte sich ihm wie magisch angezogen. Sofort registrierte
sie die abwehrenden Blicke der beiden Staatsdiener und blieb stehen. Um keinen
Preis wollte sie mehr als nötig auffallen. Die Verbindung zum mutmaßlichen
Mörder Sonja Bohrs war zu eng. Sie
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