Bleischwer
sie.
Was machte der Typ bei Michael? Noch dazu am helllichten Tag. Wie konnte es
sein, dass keiner der Campingplatzgäste ihn erkannt und seinen Aufenthaltsort
der Polizei gemeldet hatte?
Neugier
war eine schreckliche Eigenschaft, und vor allem eine, die sich – einmal
aufgekeimt – kaum mehr unterdrücken ließ. Jule umrundete das Mobilheim und
näherte sich von hinten. Hier schirmten mannshohe Büsche Michaels einfaches
Zuhause vor neugierigen Blicken aus der Nachbarschaft ab. Das kam ihr gut
zupass. Niemand würde sie sehen. Kein Mensch konnte sie dabei beobachten, wie
sie an einem der rückwärtigen Fenster, das sich in Kippstellung befand,
Stellung bezog. Um besser lauschen zu können, drückte sie sich an die weiß
gestrichene Holzwand. Deutlich identifizierte sie die beiden männlichen
Stimmen.
»Du
musst dich stellen, Stefan«, mahnte Michael Faßbinder gerade eindringlich. »Die
Bullen ballern dich sonst gnadenlos ab.«
»Kannst
du vergessen.« Winters Stimme klang unendlich müde. »Nicht, bevor ich ihren
Mörder gefunden hab. Das Schwein soll büßen … «
»Jeder
hier denkt, dass du es warst. Du musst denen erzählen, dass das nicht stimmt.
Und wie willst du den schnappen, der Sonja abgestochen hat? Du kannst dich
nirgendwo frei bewegen. Hätte ich dich nicht hinten im Lieferwagen hergebracht,
wärst du längst in die Fänge der Bullen geraten. Ach was, abgeschossen hätten
die dich im Wald, wie das Scheiß-reh gestern. Die fackeln nicht lange.« Michael
schwieg einen Moment, dann fuhr er drängend fort: »Komm, ich begleite dich zur
nächsten Polizeistation. Oder ich bring dich aus dem Tal raus. Hierbleiben
kannst du nicht … «
»Du
hast mir nicht zu sagen, was ich tun soll«, protestierte Stefan. Es klang
verzweifelt. »Ich bin eh geliefert. Sollen die mich doch abknallen. Besser als
der Knast ist das allemal. Aber vorher kill ich das Schwein. Sonja hatte keine
Chance. Die war viel zu schwach … «
Kälte
kroch von den Füßen aufwärts in Jules Glieder. Gleichzeitig schnürte ihr das
Entsetzen die Kehle zu. Michael, der Mann, mit dem sie die letzte Nacht
verbracht hatte, hielt den flüchtigen Mörder bei sich versteckt. Das war
eindeutig eine Straftat. Dafür würde man ihn einsperren können. Und dann der
nächste Hammer: Stefan Winter behauptete, unschuldig am Tod Sonja Bohrs zu
sein. War das nicht völlig unwahrscheinlich? Gestern Nacht war er auf dem Weg
zu ihrem Häuschen im Steinbacher Ortskern gewesen, und morgens, also nur wenige
Stunden später, fand man dort ihre blutige, grausig zugerichtete Leiche. Wer
sonst als Stefan hätte das tun sollen? Der, der die Beute aus dem Bankraub an
sich genommen hatte, flüsterte eine renitente Stimme in Jules Kopf. Der, der
hinter deinem Wohnwagen gebuddelt hat, bevor der Schnee kam. Wem hatte Sonja
Bohr, geborene Pütz, das Gedicht verraten? Oder war es etwa Michael gewesen, in
einem unbedachten Moment? Über all der Grübelei hätte sie fast versäumt, weiter
dem Disput der Männer im Innern des Mobilheims zu lauschen. Jule schreckte auf,
als sie Schritte auf dem PVC hörte.
»Bestimmt
hast du ein paar warme Klamotten für mich.« Das war Stefan. In unmittelbarer
Nähe. Eine Tür klapperte, wahrscheinlich die des Wandschranks. »Mütze, Schal,
Handschuhe, du weißt schon. Dann erkennt mich kein Schwein. Außerdem ist es eh
scheiße kalt. Also, das wirst du ja wohl für deinen alten Kumpel tun … «
»Bedien
dich.« Sie hörte die Resignation in Michaels Stimme. »Aber weit wirst du nicht
kommen. Auch nicht, wenn du dich verkleidest. Da draußen ist alles voll mit
SEK.«
Nun ja,
das konnte Jule nicht bestätigen. Während ihres Spaziergangs war ihr niemand
begegnet, von den beiden Beamten am Tatort einmal abgesehen. Allerdings hatte
sie ja auch nicht versucht, das Tal zu verlassen.
»Ich
muss das tun, versteh das doch, Micha. Irgendein Arschloch hat meine Kohle geklaut und meine Freundin abgestochen. Und der Typ genießt sein Leben, während
Sonja … «
»Hey«,
hörte sie nun Michael sprechen, leiser, begütigend. »Schon gut, ich hab schon
kapiert … Mensch, Stefan … «
»Ich
geh nicht zurück in den Bau.«
Das
klang dermaßen verzweifelt, dass Jule erneut Mitleid mit dem flüchtigen
Schwerverbrecher bekam, obwohl der ihr gestern Abend noch eiskalt eine geladene
Waffe an den Kopf gehalten hatte. »Ich weiß doch, was mich erwartet: strenge
Einzelhaft, kein Kontakt mit Mitgefangenen, Redeverbot, Hofgang nur in
Fesselung. Ein
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