Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bleischwer

Bleischwer

Titel: Bleischwer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christiane Wünsche
Vom Netzwerk:
sein. Weil du die heile Welt zerstören
musst, wenn sie beginnt, zu selbstverständlich und zu eng zu werden. Jule
kannte diesen Mechanismus bei sich inzwischen zur Genüge. Allerdings war ihr
nicht ganz klar, woher ihre destruktive Ader herrührte. Schon von ihrer Jugend an
hatte sie unweigerlich irgendwann die Flucht ergriffen. Immer hatte sie etwas
unternommen, was den jeweiligen Partner gegen sie aufbrachte. Was ihn bewog,
sich abzuwenden und Schluss zu machen. Flirterei mit anderen,
Unzuverlässigkeit, schnoddrige, sogar beleidigende Bemerkungen, Rückzug; ja,
sie verfügte über eine ganze Palette von Abwehrstrategien.
    Bei
Tobis Vater hatte ihr Verhalten zum ersten Mal ernste Konsequenzen. Kaum war
ihr kleiner Sohn auf der Welt, verhielt sie sich Andreas gegenüber unausstehlich.
Sie konnte seine Nähe einfach nicht mehr ertragen. Seine fürsorgliche Art
nervte sie mehr und mehr. Also vertrieb sie ihn systematisch mit
Überheblichkeit, Verachtung und Sexentzug. Andreas hielt zwei Jahre durch.
Schließlich kapitulierte er.
    Nach
der Trennung war sie paradoxerweise am Boden zerstört. Viel zu spät begriff
sie, was sie kaputt gemacht hatte. Die nachträgliche Reue nützte nichts.
Andreas hatte längst eine Neue und Jule Maiwald für ihn jeden Reiz verloren.
    Während
sie nun durch den Schneematsch an der geschlossenen Kfz-Werkstatt vorbei
Richtung Wald wanderte und dabei die Laugenstange verputzte, hielt sie die
Scham von damals gefangen. Nur weil sie keine Nähe vertrug, hatte sie Tobi den
Vater genommen. Denn der war unmittelbar nach der Trennung mit der neuen
Lebensgefährtin nach Bremen gezogen. Inzwischen hatte er geheiratet und zwei
kleine Töchter. Seinen Sohn sah er lediglich sporadisch. Sie seufzte und bog
links über die Holzbrücke in den tief verschneiten Waldweg ein.
    Jörg.
Unvermittelt erschien sein Lächeln vor ihrem inneren Auge. Sein Siegerlächeln
nannte sie es heimlich. Von sich eingenommen, voller Stolz und rückhaltlos
begeistert. Jörg, der Eroberer. Es gab ihr einen wehmütigen Stich, sein Gesicht
in voller Lebendigkeit vor sich zu sehen. Hatten sie überhaupt noch eine
gemeinsame Zukunft? So, wie Jule sich derzeit verhielt, war das eher
unwahrscheinlich.
    Sie
stellte sich Leo, Peter und Jörg beim Skatspiel vor. Gemütlich saßen sie im
Luxuscaravan der Odenthals zusammen, zockten, tranken und rauchten Zigarren.
Eine verschworene Gemeinschaft. Vielleicht würden sie sogar über Jules Flucht
in die Eifel sprechen und ihr Verhalten als verspannt abtun. Jule verzog das
Gesicht, als habe sie in eine Zitrone gebissen.
    Sie
verbot sich jeden Gedanken an das Dreiergespann und überlegte stattdessen, was
sie tun und wo sie sich aufhalten sollte, bis sicher war, dass Jörg den Heimweg
nach Kaarst angetreten hatte. Falls er überhaupt fuhr und nicht etwa bei Peter
übernachtete. Nicht auszudenken!
    Unmöglich
konnte sie sich in ihren Wohnwagen setzen, womöglich wartete dort bereits ihr
Mann, um sie ihren Eheproblemen zu konfrontieren. Zunehmend wütend wanderte sie
den schmalen Pfad entlang, an winzig kleinen Tannenbäumchen und
undurchdringlichem Fichtendickicht vorbei, immer weiter Richtung Campingplatz.
Auch Hermanns Kneipe war tabu, fuhr es ihr durch den Kopf, denn die Gefahr war
zu groß, dass die drei Anwälte dort ihr Abendessen oder ein kühles Pils zu sich
zu nahmen.
    Hilflos
blieb sie irgendwann mitten in all dem Weiß stehen. Es war zum Kotzen. Sie
hatte das Gefühl, aus einem warmen, kuscheligen Nest vertrieben worden zu sein.
Im Grunde genommen blieb ihr bloß ein Ort, an den sie sich flüchten konnte. Sie
seufzte ergeben und setzte sich wieder in Bewegung. Dann ging es eben nicht
anders. Jörg war selbst schuld. Er ließ ihr keine Wahl.
     
    Es war kurz vor siebzehn Uhr,
als Jule das eingezäunte Gelände vom ›Eifelwind‹ durch den Nebeneingang betrat,
der im größtmöglichen Abstand zu den Stellplätzen der Maiwalds und Odenthals
lag. Zügig lief sie zu dem Teil des Platzes, in dem die Mobilheime standen.
Michaels lag ganz am Rand dieses Areals. Von Weitem sah sie Licht durch die
halb heruntergelassenen Rollos schimmern. Gut, er war zu Hause. Gerade wollte
sie über die Treppenstufen zu seiner Holzveranda hochsteigen, da hielt sie
inne.
    Micha
hatte Besuch! Die Stimme, die von drinnen nach draußen drang, jagte ihr eine
Gänsehaut über den Rücken. Ihre Hand krampfte sich um das roh gezimmerte
Geländer. Schleunigst trat sie den Rückweg an. Unten auf der Wiese zögerte

Weitere Kostenlose Bücher