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Bleischwer

Bleischwer

Titel: Bleischwer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christiane Wünsche
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aus dem
Überfall von mir, um das Verfahren neu aufzurollen. Das Arschloch hat versucht
mich zu erpressen. Andernfalls, so drohte er mir, würde ich verhaftet. Ich … ich
hab mich dann nicht mehr bei ihm gemeldet und die Sache auf sich beruhen
lassen. Ich hatte eine Scheißangst, weißt du?«
    Jule
konnte kaum glauben, was sie da hörte. Sie war im Vertrauen auf das deutsche
Rechtssystem aufgewachsen. Bislang war sie nie auf die Idee gekommen, die
Integrität von Gerichten und ihren Vertretern in Frage zu stellen, und auch
Jörg hatte ihr nie einen Anlass dazu gegeben. Soviel sie wusste, bewegte er
sich mit seinen bürokratischen, trockenen Fällen stets im Rahmen des gesetzlich
erlaubten Spielraums. Vorsichtig legte sie ihre schmale Hand auf Michaels.
    »Schon
gut«, murmelte sie. »Ich verstehe dich.« Dann fiel ihr etwas ein. »Hat Stefan
sich nicht gegen das Urteil gewehrt? Ich meine, er hätte doch der Aussage der
Polizisten widersprechen können.«
    Michael
schüttelte den Kopf. »Nein, konnte er nicht, obwohl sein Anwalt natürlich
versucht hat, den Tathergang so darzustellen, dass Stefan in Notwehr schoss«,
erklärte er mit brüchiger Stimme. »Aber er selber hatte überhaupt keine
Erinnerung mehr daran. Amnesie. Wahrscheinlich, weil er durch die
Schussverletzung das Bewusstsein verloren hatte. Er weiß bis heute wohl nicht,
dass der Bulle zuerst abgedrückt hat.«
    Jule
schwieg schockiert. Was gab es auch noch zu sagen? Die besondere Schwere der
Schuld … Stefan Winter hatte keine Ahnung, dass die zu Unrecht auf ihm
lastete. Er hielt sich selbst für einen abgefeimten Mörder, der einen
Familienvater auf dem Gewissen hatte. Und sein ehemaliger Komplize quälte sich
seitdem mit einer besonderen Schwere der Schuld ganz anderer Art ab. Er hatte
den Freund im Stich gelassen. Lebenslange Haft. Vielleicht wäre Stefan die
erspart worden. Wer weiß? Sacht strich sie mit dem Daumen über Michaels
Handrücken. Sie würde ihn nicht von seinen Gewissensbissen befreien können.
Seine ganze Existenz wurde niedergedrückt vom Bleigewicht der Schuld. Kein
Wunder, dass er nie wirklich auf die Füße gekommen war.
    »Micha,
du hast versucht, ihn zu retten. Vergiss das nicht«, beschwor sie ihn
eindringlich. »Dass er einen geldgierigen Verteidiger hatte, ist nicht dein
Fehler gewesen. Wer war das überhaupt? Ein Anwalt hier aus der Gegend?«
    Michael
presste die Kieferknochen zusammen. Jule beobachtete das Muskelspiel in der
Wangenpartie. Es dauerte lange, bevor er antwortete. »Walter Fröhlich!«, stieß
er schließlich vehement hervor. »Walter Fröhlich hieß der Dreckskerl.«
    Jule
war wie vor den Kopf geschlagen. Das konnte kein Zufall sein, oder? Erschrocken
zog sie ihre Hand zurück. »Leos Vater!«, flüsterte sie tonlos. »Micha, den
kannte ich. Leo ist sein einziger Sohn. Zusammen mit Peter Odenthal hat er vor
ein paar Jahren die Kanzlei seines Vaters übernommen. Mitten in Köln.«
    Michael
Faßbinder nickte. »Ich weiß«, sagte er. »Und beide sind gute Freunde deines
Mannes, stimmt’s? Gerade sitzen die drei beim Skat zusammen. Hier im
›Eifelwind‹.« In einem Zug leerte er seinen Becher, stellte ihn vor sich ab und
verschränkte die Arme vor der Brust. »Dann kannst du dir ja denken, warum es
mir nicht gefiel, dass du mit Peter Odenthal essen gegangen bist. Die sind alle
gleich, weißt du? Wenn es darum geht sich zu bereichern, scheuen die vor nichts
zurück. Aasgeier sind das. Gehen über Leichen.«
    Jule
sprang auf. Das reinste Chaos tobte in ihrem Kopf. Sie wusste nicht, wie sie
Ordnung hineinbringen sollte. Nervös tigerte sie durch den kleinen Raum. Hin
und her. Schließlich blieb sie vor der Terrassentür stehen und blickte in die
undurchdringliche Dunkelheit. Wind war aufgekommen. Er fegte die Schneehauben
vom Geländer. Es würde milder werden. Aber auch stürmisch. Sie fröstelte,
schlang die Arme um den Körper und zog die Schultern hoch. Fasziniert
beobachtete sie, wie sich ein kerzengerades Tannenbäumchen draußen unter einer
heftigen Windbö schräg zur Seite neigte. Da spürte sie die beruhigende Wärme
seines Körpers. Michael war hinter sie getreten. Behutsam legte er beide Arme
um ihre Hüften und zog sie sanft an sich. Reglos standen sie da. Er wärmte
ihren Rücken und gab ihr Halt. Sie lehnte sich an ihn und schloss dankbar die
Augen.
    Als sie
dieses Mal miteinander schliefen, geschah es auf bedächtige Weise. Zärtlichkeit
lautete die Devise. Jule genoss es, sich seinem Takt zu

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