Bleischwer
Maiwald hatte ein Leben
ausgelöscht. Die Schuld dafür trug sie seit jenem Sommer mit sich herum. Hatte
sie für immer gezeichnet. Kein Wunder, dass sie das Bett mit jemandem teilte,
der gleichermaßen beschädigt war.
Plötzlich
wurde sie unruhig, fühlte sich durch Michaels bloße Anwesenheit eingeengt. Da
schlief er in aller Seelenruhe neben ihr, während sie sich mit ihren
Schuldgefühlen abplagte. Unwirsch entfernte sie sein angewinkeltes Bein von
ihrem Oberschenkel. So, schon besser. Doch nun störte sie sein Arm, der
entspannt auf ihrer Taille lag. Sie nahm ihn am Handgelenk und platzierte ihn
auf seiner Hüfte. Micha atmete einmal tief ein und aus, wurde jedoch nicht
wach. Geht doch, dachte sie. Gleich fühlte sie sich freier, aber dafür fror sie
nun. Entnervt stöhnte sie auf und setzte sich. Es hatte keinen Sinn. Sie musste
hier weg. Weg von … ach egal, Hauptsache heim. Leise stieg sie aus dem Bett und
kleidete sich im Dunkeln an. Halb erleichtert, halb bedauernd schaute sie sich
noch einmal zu der tief schlafenden Gestalt auf der schmalen Matratze um, bevor
sie das Mobilheim verließ.
Draußen packte sie der Sturm.
Die Wucht einer Bö riss sie fast von der Holzterrasse. Erschrocken klammerte
sie sich so lange an das Geländer, bis der Wind kurzzeitig nachließ. Dann eilte
sie über die Wiese. Sie würde den direkten Weg zum Maiwald’schen Stellplatz
nehmen. Am See vorbei. Das Brausen in den kahlen Kronen der Bäume, die den Weg
säumten, machte ihr Angst. Jule hielt Abstand von den Stämmen, fürchtete
herabstürzende morsche Äste. Tief vergrub sie sich in den Anorak und stemmte
sich gegen den Sturm, der ihr das Haar aus dem Gesicht riss. Bald sah sie die
weite graue Eisfläche des Angelsees vor sich. Das Schilf am Ufer neigte sich
tief unter der geballten Kraft des Sturmes. Schnee stob auf und floh in die
Düsternis.
Jule
lief weiter. Inzwischen war sie hellwach. Welcher Wahnsinn hatte sie bewogen,
Michael Faßbinders wärmende Arme zu verlassen? Sie kniff die Augen zusammen, um
besser sehen zu können, und hetzte weiter.
Beinahe
wäre sie über das Bündel gestolpert, das am Wegesrand lag. Eine Schneewehe
hatte sich auf der ihr zugewandten Seite des Haufens gebildet. Deshalb hielt
sie ihn zunächst für eine Art Hügel. Aber direkt am Uferweg hatte so etwas doch
nichts zu suchen, oder?
Sie
stoppte und beugte sich nach vorn. In dem Moment heulte der Sturm auf wie eine
Todesfee. Es schmerzte in den Ohren. Jules Beine gaben nach; schnell hockte sie
sich hin. In ihrem Rücken knackte es. Jetzt konnte sie das Ding aus nächster
Nähe betrachten. Wie in Trance liefen Bilder an ihrem Sichtfeld vorbei. Eine
Hand, ein Arm, eine Schulter, Haare, ein Gesicht. Omi. Der Traum. Realität. Der
Schrei blieb in ihrer Kehle stecken. Sprichwörtlich. Es kam kein Ton heraus,
bloß ein leises Krächzen.
Das,
was sie sah, konnte nicht sein. Durfte nicht sein. Die Augen des Mannes waren
geöffnet, doch sie wirkten stumpf und glanzlos, die Augäpfel angetrocknet.
Schnee hing in den Wimpern. In ihr löste sich ein Schluchzen. Nun erst bemerkte
sie den großen dunklen Fleck, der sich vom Hinterkopf des Toten im
zertrampelten Sulz ausgebreitet hatte. Paradoxerweise musste sie an die schmutzigen
Pfützen denken, die ihre Wanderschuhe auf Michaels Fußboden hinterlassen
hatten. Fassungslos starrte sie auf das wächserne Gesicht. Wenigstens ist er
als freier Mann gestorben, war der letzte geordnete Gedanke, der ihr Hirn
erreichte. Dann ergriff die Panik sie. Jule Maiwald trat die Flucht an. Sie
rannte und rannte.
Endlich
erreichte sie durch das Tor das schützende Grundstück, da rüttelte der Sturm
heftig an Opa Maiwalds Pavillon. Das alte Holz stöhnte und ächzte. Jule fuhr
zusammen. Zitternd floh sie weiter, auf den Eingang zu. Gerade wollte sie
hinein, da prallte sie zurück. Vor ihr ragte etwas auf. Hoch, groß, schwarz.
Unerbittlich.
»Nein«,
flüsterte sie. »Nein.«
Sekunden später lag sie in
seinen Armen.
»Schsch,
Jule.« Jörg hielt sie fest umfangen und strich über ihren bebenden Rücken.
»Schon gut, Süße. Beruhige dich, ich bin’s doch nur.«
Sie
hätte am liebsten alles vergessen: den Sex mit Michael, die toten Augen Stefan
Winters, die ganzen letzten Tage.
Jule
presste fest die Augen zusammen, um sich Jörgs klarer Schwarz-Weiß-Welt zu
überlassen. Schlagartig begriff sie, dass dies ihr Zuhause darstellte. Ein
Mann, eine Frau, eine Ehe. In guten wie in schlechten Tagen. Hier gehörte
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